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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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sich unnatürlich verkrampft und prickelten und stachen wie tausend Nadeln. Er hatte offenbar die ganze Zeit falsch und hektisch geatmet.
    Dankwart kniete nieder und ergriff das Photo, dass Haralds sterbender Hand entglitten war. Dabei entdeckte er einen großen, schwarzen Kasten, der unter der schönen Chaiselongue lag. Er kroch darauf zu und zog einen Cellokasten hervor.
    In diesem Moment hämmerte es gegen die Wohnungstür.
    „Aufmachen, Untersturmführer! Polizei!“
    Einen Augenblick vergaß Dankwart seine Unsichtbarkeit. Panisch sah er sich um.
    „Aufmachen! Wir haben etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen!“
    Es war ihnen wirklich dringend. Dankwart hörte bereits heftige Tritte gegen die Tür. Dann splitterte Holz.
    Fünf uniformierte Kerle stürzten ins Zimmer. Einer trug einen langen, schwarzen Ledermantel, die anderen schwarze Uniformen. Alle hatten eine rote Armbinde, die das schwarze Kreuzsymbol in einem weißen Kreis aufwies, das Dankwart schon auf dem einen Brief gesehen hatte.
    „Scheiße!“
    Der im schwarzen Mantel starrte auf den Toten. Die anderen wichen teilweise zurück, einige gafften mit unverhohlener Neugierde auf das Spektakel. Einer grinste.
    „Das verdammte Arschgesicht hat sich aus dem Staube gemacht“, sagte der Schwarzmantel. Sein vernarbtes Gesicht blickte angeekelt.
    Er wandte sich an seine Untergebenen.
    „Los, alles durchsuchen. Kann ja nicht schaden. Er hat jetzt nichts mehr dagegen.“
    Die Männer begannen, alle Schränke aufzureißen. Die Schubladen leerten sie auf den Boden.
    „Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf!“ brüllte der Schwarzmantel. „Wir sind hier im Hause eines Kriminalrates und nicht bei einer verdammten Judensau!“
    Die Männer kuschten sofort und beeilten sich, ihre Pöbelhaftigkeit wieder gutzumachen. Der Schwarzmantel untersuchte die Tischschublade und steckte sich die Taschenuhr und den Füllfederhalter ein, den er dort fand. Dann fingerte er in Haralds Anzugjacke und zog seine Brieftasche hervor, erleichterte sie um die darin befindlichen Geldscheine und warf sie auf den Tisch.
    Dankwart beobachtete fassungslos die widerwärtige Fledderei. Er kniete immer noch vor der Chaiselongue und hatte den Griff des Cellokastens in der Hand.

    Dankwarts Erwachen war diesmal ruckartig und plötzlich. Er fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn, und sein Herz raste. Erst langsam gewahrte er die Wände seiner Schlafkammer um sich herum. Das diffuse Licht von oben sagte ihm, dass es Tag war.
    Im Moment einer plötzlichen Erinnerung packte er sich an die Brusttasche. Er zog das Photo hervor, das er von Haralds Teppich aufgehoben hatte. Das Photo von Eleonora, die eigentlich Elizabeth Nachtmann hieß, geborene Murray. Wenigstens dies hatte er hinübergerettet. Doch er würde Eleonora nie über dieses Ereignis berichten, dem er gerade beigewohnt hatte.
    Jetzt wurde ihm bewusst, dass er diesmal von seinem Zimmer aus in die andere Welt gereist war. Seine Fähigkeit hatte sich also noch weiter verbessert. Er hoffte nur, dies in Zukunft besser steuern zu können.
    Richtig, vor dem Einschlafen hatte er an Harlan gedacht. Dies könnte etwas mit dem Ziel seiner Reise zu tun gehabt haben. Und vielleicht die Musik, die Aufnahme mit dem Brückner-Quartett. Dvořáks wundervolles Stück.
    Er stieß mit dem Fuß an etwas Großes, Hartes.
    Es war der Cellokasten. Er lag unter seinem Bett, als habe jemand ihn sorgfältig dort deponiert.
    Verdutzt fixierte er den großen Kasten. Dass er so große Objekte mitnehmen konnte, damit hatte er nicht gerechnet.
    Er zog den Kasten hervor und öffnete ihn. Unter einem großen, violetten goldbestickten Staubtuch lag das Instrument, dunkel, alt und ehrwürdig. An seiner Oberseite war es offenbar in mühevoller Kleinarbeit restauriert worden, denn es sah aus, als sei der Körper des Cellos zerstört gewesen, wie von einem schweren Gegenstand eingeschlagen oder gar eingetreten.
    Dankwart merkte seine Entrüstung. Welcher Vandale tat so etwas?
    Sorgfältig holte er das schöne Instrument aus dem Kasten heraus, zog den Stachel raus und klemmte es sich zwischen die Beine. Dann spannte er den Bogen und begann zu spielen.
    Er war kein Cellist, natürlich, aber viele Bewegungen waren der der Geige doch recht ähnlich. Ungelenk, aber doch gekonnt ließ er ein paar Töne erklingen.
    Noch immer, oder besser: wieder klang das Instrument voll und tönend.
    Dankwart seufzte. Wie prachtvoll mochte es in unversehrtem Zustand geklungen

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