Die schlafende Stadt
unwahrscheinlich.
Oder? So etwas wie folie à deux gab es ja schließlich!
Doch woher sollte Leni Details wie das Mittelalterfest oder der Krieg gegen die Russen sonst kennen? Und wohin waren seine Rosen verschwunden?
Womöglich träumte er die ganze Zeit und würde irgendwann aufwachen?
Er schüttelte die Gedanken ab. Die schlafende Leni neben ihm war zu real, als dass er sie hätte herbeiphantasieren können.
Die nächste Nacht schlief er ruhig. Dies entfernte ihn wieder von seinen Befürchtungen. Alles war in Ordnung. Er versuchte, wieder zu arbeiten und die Gedanken weiterzuführen, die ihm kurz vor Dankwarts Besuch gekommen waren. Allein eine gewisse Unruhe ließ ihn nicht so recht los. Er erklärte dies damit, dass er voll angespannter Erwartung auf einen erneuten Kontakt mit Dankwart wartete.
Dankwart kehrte am dritten Tag zurück. Berthold bemerkte ihn als erster, obgleich er ihn nicht sehen konnte. Er saß mit Leni in seinem Wohnzimmer, und sie hatten eben erst ihr Abendessen beendet, das Berthold diesmal nicht so recht genießen konnte, denn gerade heute Abend war er wieder unerklärlich unruhig, so als warte er auf etwas Entsetzliches. Nervös trank er einen tüchtigen Zug von dem köstlichen Wein, den Leni ihm gekauft hatte.
Plötzlich ging ein Schauer durch seinen Körper. Ihm wurde warm, und seine Angst verflog mit einem Male. So als hätte ein kräftiger Windstoß plötzlich alle dunklen Wolken vertrieben, und die Sonne würde wieder erstrahlen, golden und warm.
„Er ist da“, sagte er.
Leni sah erstaunt auf. Sie war müde von der Arbeit und hatte kurz vor sich hingeträumt. Jetzt blickte sie auf Berthold und sah Dankwart hinter ihm stehen.
Dankwart lächelte ihr zu. Er sah ihr tief in die Augen, so tief, dass Lenis Herz etwas schneller zu schlagen begann. Er sah aus, als sei er verliebt.
„Ja, er ist da“, sagte Leni. Aufmerksam sah sie in das markante, melancholische Gesicht mit diesen dunklen, unergründlichen Augen.
„Schön, dass du da bist“, sagte sie zu Dankwart und zeigte ihr typisches, verklärt anmutendes Lächeln, das so schwer zu beschreiben war.
„Was sagt er?“
„Dass er sich freut, dich zu sehen“, sagte Leni. „Und auch mich.“
„Seine Nähe tut mir gut“, sagte Berthold.
„Er sagt, dass du ihm auch gut tust.“
Leni machte eine Pause und hörte Dankwart zu.
„Er bittet uns um Material. Eine große Schere vielleicht, oder auch ein großes, scharfes Messer, das schweren, dicken Stoff durchtrennen kann.“
„Ich könnte in der Küche nachsehen, ob ich dort etwas finde.“
„Und er braucht Informationen. Bücher, Bilder, Tonaufnahmen. Alles, was Verbindung schafft zu dieser Welt, diesem Dasein hier.“
Berthold war bereits auf dem Weg zur Küche und machte eine einladende Bewegung.
„In meinem Arbeitszimmer sind hunderte von Büchern. Vielleicht magst du Sie dir ansehen?“
Leni bedeutete Dankwart, ihr zu folgen.
Als Berthold mit seinem großen japanischen Messer bewaffnet, das er sich gerade erst geleistet hatte, in sein Arbeitszimmer kam, blätterte Dankwart in einem seiner Bücher.
Berthold erstarrte.
Er konnte ihn schwach erkennen, schemenhaft, aber deutlich.
Dankwart blickte jetzt auf und sah ihn an.
Ihre Blicke trafen sich. Dankwart wurde noch deutlicher. Jetzt erkannte Berthold einzelne Gesichtszüge. Jung sah er aus, genauso, wie man sich einen Urgroßvater nicht vorstellt. Auf seinen Knien lag ein Buch, das Berthold beim näheren Hinsehen als eines seiner Kinderbücher erkannte.
„Little Mole Morris“. Schon seine Mutter Carmilla hatte ihm daraus vorgelesen, als er noch klein war. Damals hatte sie es ihm direkt aus dem Englischen übersetzt, weil auch sie es schon aus ihrer Kindheit gekannt hatte. Später hatte er es zum Englischlernen benutzt.
Dankwart schien es aus unerfindlichen Gründen hochinteressant zu finden. Besonders lange beschäftigte er sich mit dem Photo des Autors, das auf der hinteren Klappe des Umschlags abgebildet war, ein schelmisch aussehender, uralter Mann mit fast kahlem Schädel, der ein bisschen aussah wie eine alte Krähe.
„Darf ich dieses Buch mitnehmen?“
Es war nicht, als spräche Dankwart. Berthold hörte seine Stimme vielmehr in seinem Inneren, so als träume er, dass Dankwart etwas zu ihm sagte.
Berthold sah etwas wehmütig auf das Buch.
„Bekomme ich es wieder?“
„Ich werde alles tun, dass du es zurückbekommst.“
Dankwart hatte bereits den Feldstecher erspäht, den Berthold einmal
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