Die schlafende Stadt
verbunden war als alle anderen, die Generation für Generation ins Leben getreten waren, und die alle einen Teil von ihm in sich trugen. Sein Sohn, sein Enkel, sein Urenkel ...
Er merkte, dass ihn das mit Stolz erfüllte.
Wieder zurückzukehren ins Leben war wahrlich wie ein Rausch. Wie ein hundertjähriger Schlaf ... woher kannte er das?
„Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger, tiefer Schlaf.“
Das stammte aus einer Geschichte, einem Märchen, einem ganz bekannten sogar. Wie hieß es doch? Eine Königstochter, die hundert Jahre schläft ... bis dass der Kuss eines Prinzen sie wieder aufweckt. Und das Schloss, in dem sie schlief, wuchs über und über zu mit Dornenranken.
Mit Rosen.
Dornröschen.
Fast musste er schmunzeln, sein eigenes Schicksal in einem Märchen wiederzufinden. Aber es beglückte ihn, dass sein Wissen von früher jetzt immer leichter aus den Tiefen des Vergessens auftauchte.
Was für die Prinzessin der Kuss war, war für ihn der Blick aus Lenis Augen gewesen. Aber vielleicht hatte dies nur deshalb eine solche Kraft, weil sie etwas damit wiederbelebte, das bereits in ihm war?
Er hatte ja seine große Liebe. Sophia, seine Frau, die alleine ohne ihn ihr Leben hatte weiterleben müssen.
Ob sie inzwischen auch gestorben war? Dann müsste sie hier sein, hier in der Stadt!
Stöhnend fuhr er sich über das Gesicht. Es waren so viele Gedanken, die in ihm strömten, dass es ihm war, als werde er irre.
Er besah sich die drei Rosen, die von Lenis Strauß noch übrig waren. Weiß, gelb und rot.
Er nahm sich die rote Rose und legte sich wieder hin. Er schnupperte an der Blüte. Das beruhigte. Es führte ihn wieder in das Hier und Jetzt.
Zurzeit waren viele beunruhigt. Man fürchtete sich vor Harlans Armee.
Harlan.
Harald.
Welch eine merkwürdige, widersprüchliche Persönlichkeit.
Dankwart erwachte plötzlich, stehend, in einem abgedunkelten Flur. Nur kurz erinnerte er sich, dass er gerade eben noch geträumt hatte.
Er hatte von Harlan geträumt. Das war das Letzte, an das er sich noch erinnerte. Während er sich noch bemühte, das Geträumte festzuhalten, verlief es, ohne eine Möglichkeit, es zu bewahren.
Er war gereist. Ohne den geschnitzten Sessel, ohne die roh behauene Kammer im Fels. Ohne die Nähe des Schlosses.
Er konnte es kaum fassen. Aus seiner Kammer hinaus war er ins Diesseits gelangt!
Seine Umgebung war ihm fremd. Es roch nach Bohnerwachs und Holz. Der Flur hatte eine hohe Decke, und die Wände waren bis zur Schulterhöhe mit einer edlen Holztäfelung versehen. Der Boden bestand aus gemusterten Zementfliesen, die ein reizvolles Pflanzenornament bildeten. Der Besitzer dieser Wohnung war mit Sicherheit wohlhabend.
Die Musik war es.
Ja, da war Musik. Sie drang durch eine der Holztüren, dumpf, knisternd, wie von einer alten Schallplatte.
Dankwart ging ein paar Schritte vor. Dort, hinter dieser Tür war es.
Es war ein Streichquartett. Antonín Dvořáks Streichquartett № 12 in F-Dur, das „ Amerikanische Quartett “. Wie oft hatte er es gespielt!
Wer hörte hier dieses Stück?
Er ging durch die geschlossene Tür wie ein Windhauch. Er war in einem elegant eingerichteten Zimmer. Holzdielen, ein schwerer, orientalischer Teppich, ein großes, reich bestücktes Bücherregal. In der Mitte des Raumes ein schöner, alter Holztisch, auf dem ein kleiner, aber kompakter, geöffneter Koffer stand, der neben einigen Schallplatten noch allerlei Dokumente, Hefte und gefüllte Umschläge aller Art enthielt.
Neben dem Fenster stand der Plattenspieler, ein hohes, elegantes Gerät aus Holz, das im unteren Teil aus Schrank und Schublade bestand und dessen Deckel aufgeklappt war.
Dankwart kannte diese Aufnahme. Die Bratsche hatte die Hauptmelodie angestimmt, während die Violinen das Thema jubelnd umspielten.
Jetzt kam sein Part. Strahlend erhob sich die erste Violine über die anderen Stimmen.
Er sah auf die sich drehende Schallplatte. Eine Schellackplatte mit einem dunkelroten Etikett.
Es zeigte einen Raben. »Le Corbeau« stand darunter.
Dankwart begriff erst langsam, wer da spielte. Die Geige, die hier erklang, das war er selbst! Er und sein Streichquartett. Das Brückner-Quartett, das er auf dem Photo in Bertholds Zimmer gesehen hatte.
Wer um alles in der Welt hörte alte Aufnahmen vom Brückner-Quartett? Der Plattenspieler war von modernerer Art, als Dankwart in Erinnerung hatte. Kein Schalltrichter, kein klobiger Hebelarm.
Erst jetzt bemerkte er den Mann
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