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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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ich weiß es.“
    Dankwart schüttelte innerlich den Kopf. Wolfgang war schon merkwürdig. Einerseits so feinsinnig und dann doch so derbe.
    „Und wie bist du gereist? Von deiner Bettstatt aus?“
    „Nein, das ging nicht so ohne weiteres. Erst später, als ich geübter darin war. Nein, die Bürger, die reisen wollten, gingen ins Schloss. Damals war dies ein öffentlicher Ort, das spirituelle Zentrum der Stadt. Man begab sich in das zentrale Kenotaph, suchte sich dort einen bequemen Sitz und blickte in das Ewige Wasser. Dort löste man sich von dem hiesigen Körper und gelangte in die andere Welt.“
    Dankwart hatte dies geahnt. Klar, das hatte Harlan dort getan!
    „Waren damals schon die schwarzen Vorhänge dort?“
    Wolfgang wurde ernst. „O ja. Aber sie waren damals dünner und leicht zu überwinden, wenn man wollte. Noch früher sollen sie sogar zart, fast durchsichtig gewesen sein. Doch sie wurden immer dichter, undurchdringlicher. Die Alten erzählen, dass dieser Ort in früheren Zeiten festlich, majestätisch war ob seiner Größe, und doch irgendwie licht und freundlich, ein Ort, der zum Verweilen einlud. Doch irgendwann begann er, in einem eigenartigen Zwielicht zu versinken.“
    „Das heißt, sie gab es schon lange vor Harlan und den schwarzen Wachen?“
    „Ja, lange davor. Schon zu meiner Zeit, als ich hierher kam. Bereits damals hatten viele Menschen aufgehört zu träumen und zu reisen. Man hatte aufgehört, sich für andere Welten zu interessieren.“

Mein Zustand ist wirklich eigentümlich: wenn es Abend wird, überfällt mich eine unbegreifliche Unruhe, als ob die Nacht eine fürchterliche Gefahr für mich berge. Schnell schlinge ich mein Essen hinunter, dann versuche ich zu lesen, aber ich verstehe die Worte nicht, ich kann kaum die Buchstaben unterscheiden. Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab und eine wundersame Angst lastet auf mir, die Angst schlafen zu gehen, die Angst vor dem Bett.
    Guy de MAUPASSANT, Le Horla

    R ogers Verschwinden fiel erst mehrere Tage später auf, und es war zunächst nur der Umstand, dass er unentschuldigt nicht zum Dienst erschienen war. Dies war für ihn äußerst ungewöhnlich, und Stationspfleger Ulrich begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Leider war es in diesem Fall schwierig, Näheres zu erfahren, denn soweit er wusste, war Rogers Vater unbekannt, ein Herr Auf-und-davon, und Rogers Mutter war schwere Alkoholikerin und saß mit Korsakoff-Syndrom in einem Pflegeheim. Da Roger allein lebte, gab es also kaum jemanden, der Auskunft geben könnte.
    Nur Robin vielleicht, dieser arrogante Vollidiot. Ihm war zu Ohren gekommen, dass Robin und Roger öfter zusammen gesehen worden waren. Was für ein merkwürdiges Paar. Jede Wette, Robin missbrauchte den schmächtigen, gutmütigen Kerl für seine machtgierigen Bedürfnisse. Er hätte ihn sofort hinauswerfen sollen.
    Wie erwartet, wusste Robin rein gar nichts. Er zog nur erstaunt die Augenbrauen hoch und zuckte die Schultern. Keine Ahnung, wo Roger sein könnte. Sie seien am Abend noch zusammen rausgegangen, dann hätten sich ihre Wege getrennt.
    Lenis freier Tag nach ihrem Nachtdienst hatte ihr und Berthold einen sonnigen Urlaubstag beschert. Wohl war es bereits recht kalt, aber sie verbrachten den ganzen Tag draußen auf dem Land und besichtigten ein schönes Städtchen namens Karstein, von dem Berthold zu erzählen wusste, dass sich dort seine Eltern so richtig liebengelernt hätten. Sie waren durch die engen Gassen gebummelt, hatten die schiefen Fachwerkhäuser bestaunt, waren durch den herrlichen herbstlichen Wald spaziert und hatten es sich abends in einem indischen Restaurant gutgehen lassen.
    Zu Bertholds Entsetzen tauchte des Nachts wieder eine Ahnung seiner Angst auf. Wie ein Vampir schien die Angst um sein Bett zu schleichen, hinterhältig geduckt, ihn anstarrend aus dem Dunkel, darauf lauernd, sich seiner zu bemächtigen. Berthold merkte dies und verharrte in furchtsamer Wachsamkeit, das Herz wild klopfend. Jede Unaufmerksamkeit barg Gefahr, und so tat er kaum ein Auge zu.
    Morgens fühlte er sich erschöpft und angespannt zugleich, und es beunruhigte ihn, dass ihn seine Liebe zu Leni nicht kurierte. Auch hatte er keinerlei Erklärung dafür, dass ausgerechnet jetzt seine Angst wiederkehrte. Im Gegenteil, er sollte glücklich sein.
    Dann überlegte er, ob Dankwarts Besuch die Ursache sein könnte. Ob er womöglich doch verrückt war? Aber dann müsste Leni ja auch verrückt sein. Doch das war

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