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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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war er überwältigt von dem, was er dort erblickte. In ihren strahlenden Augen mochte er förmlich versinken. Diesen sinnlichen, vollen Mund hätte er immerfort küssen, diese weichen, charaktervollen Wangen immerfort streicheln mögen. Zärtlich strich er über ihre Nase, die schönste Nase, die er sich vorstellen konnte.
    „Ich möchte dich nie verlieren“, sagte er.
    „Das wirst du nicht“, gab sie zur Antwort.
    „Ich möchte eine richtige Beziehung“, sagte Berthold. „Nägel mit Köpfen. Mit allem Drum und Dran.“
    ‚Nie wieder so etwas wie mit Margit’ dachte er sich im Stillen.
    Leni lachte. Es sah aus, als wisse sie bereits, was er meinte.
    Trotzdem fragte sie: „Was meinst du damit genau?“
    „Na, was soll ich schon meinen? Zusammen leben. Heiraten. Kinder kriegen. Miteinander alt werden.“
    „Und das möchtest du mit mir?“
    Ihre Augen waren voller Tränen.
    „Nur mit dir. Mit niemandem sonst.“

    Diese Nacht wurde Berthold von grauenhafter Panik heimgesucht. Er hatte eine Art Traum im Halbschlaf, der nicht weichen wollte. Obgleich er nicht wirklich schlief, war es ihm, als falle er ins Bodenlose. Starr vor Angst erwartete er den tödlichen Aufschlag. Dann wieder war es jenes überwältigende Gefühl von Verlorenheit und Einsamkeit, das ihn peinigte, und von dem er schon gehofft hatte, es los zu sein. Dann wieder hatte er das Gefühl, jegliche Lebensenergie entweiche aus seinem Körper, so als hauche er seine Seele aus, und nichts bliebe übrig als eine leblose Hülle.
    Sein verzweifeltes Schluchzen entkrampfte sich schließlich in Lenis Umarmung. Ihr wundervoller Duft und ihre Wärme vertrieben den Vampir Angst, der, gesättigt vom Lebenssaft seines Opfers, nun langsam von ihm abließ und im undefinierbaren Nichts verschwand. Jetzt war er erschöpft und schämte sich wegen seiner irrationalen Schwäche.
    Einen Grund für seine neue Welle von Ängsten fand er nicht. Das letzte Mal, als es so schlimm war, war Robin bei ihm zu Besuch gewesen. Das alberne, peinliche Gequatsche über seine sexuellen Vorlieben. Konnte ihm das wirklich Angst machen? Robin war ein entnervender, ja zuweilen unangenehmer Mensch, der ständig Grenzen überschritt, aber das reichte doch nicht, um vor ihm Angst zu haben.
    Und doch: die letzte Begegnung war vor einigen Tagen gewesen. Da war er wieder hereingeplatzt und nervte mit seinem nichtigen Geschreibsel.
    Andere Zusammenhänge wollten ihm nicht einfallen.
    Womöglich war es etwas ganz anderes? Er erinnerte sich, dass die heutige Schlagzeile im Regionalteil ihn beunruhigt hatte. Ein Krankenpfleger wurde vermisst, ausgerechnet einer, der im St.-Sebastianus-Hospital arbeitete. Auch Robin leistete dort seinen Zivildienst ab. Und Leni hatte dort gelegen. Manchmal suchte sich die Seele ihre Bilder ja über mehrere Ecken.

    Dankwart kam diesmal am Morgen. Sofort senkte sich wieder Frieden über Bertholds verstörten Geist.
    Er hörte Berthold aufmerksam zu. Ernst war er. Und nachdenklich, denn er schien diese Gefühle zu kennen. Über sein Gesicht huschte der Eindruck einer flüchtigen Erinnerung, denn er starrte kurz in die Ferne, als sehe er dort etwas.
    Dankbar nahm er alles entgegen, was Berthold und Leni für ihn besorgt hatten. Außer dem Kinderbuch und dem Feldstecher, die er bereits mitgenommen hatte, erhielt er eine Sturmlaterne, die schon Ludwig besessen hatte, dazu Streichhölzer, und die gewünschten Noten.
    Liebevoll besah er sich die beiden jungen Leute.
    „Ich glaube, deine Angst wird bald ein Ende haben“, sagte er nach einigem Schweigen. „Ich glaube, ich weiß, woher sie stammt.“
    „Und woher?“
    „Ich glaube, sie hat zu tun mit etwas Schlimmen, was ich erlebt habe. Es hat mit meinem eigenen Sterben etwas zu tun. Und mit einem bösartigen Menschen, den ich einst kannte.“

Fürwahr, meine Geliebte,
die Seele ist es,
die man sehen muss,
die Seele ist es,
die man hören muss,
die Seele ist es,
die man betrachten muss
und die Seele ist es,
die man kennen muss.
    YAJNAVALKYA

    D ie Sonne senkte sich bereits wieder, und schon hatte ihr Licht den leichten Hauch von Orange, der für den Nachmittag so charakteristisch ist. Dankwart war beladen mit allen Utensilien, die sein Vorhaben verlangte, obgleich er von größten Zweifeln geplagt wurde. Haralds Cello war weitaus leichter, als er befürchtet hatte, doch zusammen mit seiner Geige, dem Bündel auf seinem Rücken, den Notenblättern und Antons Feldstecher kam doch einiges an Gewicht zusammen,

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