Die schlafende Stadt
Glück.
Dankwart war so überwältigt von der Pracht, die sich seinen Augen bot, dass er schweigend verharrte.
Dann sah er zu seinen Freunden.
Sie standen da, alle drei, und starrten ins Licht. Ihre Gesichter hatten eine frische, lebendige Farbe bekommen. Keine Male der Verbrennung waren erschienen.
Uriel trat an die Brüstung zu Dankwart.
„Dies ist der Beginn eines neuen Zeitalters.“
Ungläubig betrachtete er seine Hand. Noch nie hatte er sie im goldenen Sonnenlicht gesehen.
„Die Zeit des Erwachens hat begonnen.“
„Kommt mit mir“, sagte Dankwart. „ich möchte euch die Sonne zeigen! Den leuchtenden Himmel, das beschienene Meer!“
Als Dankwart aus dem Schlossportal trat, war die Sonne bereits gen Horizont gesunken, groß, rot, feurig. Der Himmel zeigte ein leuchtendes Orange, die Abendwolken türmten sich rot, rosa und zartviolett zu phantastischen Gebilden.
Uriel, Raphael und Aram waren in den Schatten zurückgeflüchtet.
„Wollt ihr nicht kommen?“ rief Dankwart.
„Es ist noch zu intensiv für uns!“ ließ sich Uriel vernehmen. „Es verursacht uns Schmerzen. Das indirekte Licht im Innenraum ist alles, was wir im Moment aushalten können.“
„Dann nehmt den üblichen Weg zurück“, sagte Dankwart. „Gleich ist Dämmerung. Dann gewinnen die Mächte der Finsternis wieder an Kraft.“
„Kommst du nicht mit?“
„Nein“, sagte Dankwart. „Ich habe noch etwas Wichtiges vor.“
„Was wirst du tun?“
„Ich werde mich mit jemandem treffen“, sagte Dankwart.
Die Dämmerung setzte bereits ein, als Dankwart die Kaserne betrat. Die Eingangstür zu Harlans Saal war erneuert worden, und wieder war sie verschlossen. Sie ließ sich ebensoleicht eintreten wie zuvor, und so gelangte Dankwart durch das Treppenhaus in den Großen Saal, der vom Abendrot noch etwas erleuchtet war.
In Harlans Zimmer blickte er durch die Panoramafenster auf die Stadt. Noch war alles still, doch mit der Dunkelheit würden die Toten erwachen.
Er betrat Harlans Kammer. Er öffnete Harlans Sekretär und wollte gerade den großen, braunen Umschlag aus seiner Brusttasche ziehen, um ihn wieder zurückzulegen, als er sah, dass Harlan ein neues Dokument dort hinterlegt hatte.
Wieder handelte es sich um einen Brief, ähnlich dem, den Dankwart bereits gelesen hatte:
Dankwart steckte den Brief in den braunen Umschlag zu den anderen Dokumenten und schloss den Sekretär. Haralds Cello stellte er daneben.
Inzwischen war die Sonne untergegangen. Dankwart ging wieder in den größeren Raum, setzte sich dort in einen der bequemen Sessel. Dann nahm er Antons Feldstecher und betrachtete die Stadt.
Als erstes suchte er den Ygâr-Dá. Richtig, dort war er. Groß, klobig, verwittert, und er barg grauenvolle Bewohner, die sich in diesem Moment erheben würden.
Die ersten Lichter in den Häusern gingen an, ebenso die der Straßenlaternen. Jetzt wirkte die Stadt plötzlich wieder so erhaben und eindrucksvoll wie früher. Keine Spur von Verfall. Die Türme waren jetzt wieder majestätisch, die Paläste eindrucksvoll, das Observatorium vertraut.
Ob Beda jetzt erwachte? Was mochte wohl die Rose ausrichten, die er fand?
Die ersten Boote waren zu erkennen. Die Fensterläden des Verwaltungsgebäudes hatten sich geöffnet. Einige wenige Leute hatten begonnen, die Straßen zu betreten. Die Mondsichel stand jetzt am Himmel, und der Boote wurden es jetzt mehr und mehr.
Dort waren sie. Dankwart konnte jetzt die ersten Wachen erkennen, wie sie verstohlen und heimlich aus den diversen Löchern und Nischen herauskamen, von den Bewohnern weitgehend unbemerkt, aber dennoch überall. Die erste Patrouille war jetzt zu entdecken, um den ersten dieser Nacht abzuholen, um ihn der Renaturierung zuzuführen, um alles in ihm auszulöschen, was ihn belebte.
Jetzt sah er, dass sich zahlreiche Wachen die Stufen zum Schloss hinaufbewegten. Wie eine Horde von Spinnen krochen sie von allen Seiten zusammen und kamen herauf. Dankwart konnte bereits ihre Schritte hören, obwohl sie sich immer so leise wie möglich bewegten.
Jetzt!
Dankwart hörte deutlich, dass sich die Tür zum Großen Saal geöffnet hatte und wieder zuschlug.
Hastig stand er aus dem Sessel auf und legte eine Rose auf die Fensterbank. Dann glitt er wieder lautlos in die kleine Kammer. Mit einigen kräftigen Klimmzügen, die er von Erik gelernt hatte, zog er sich an den Wänden hinauf und platzierte sich auf einem der Säulenkapitelle. So weit oben, verborgen im Schatten des
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