Die schlafende Stadt
zumal er in seiner Hand noch die drei Rosen hielt, die jetzt voll erblüht waren, und von denen er hoffte, sie bewahrten in diesem warmen Licht ihre Schönheit noch eine Weile.
Sein erster Weg führte ihn zum Observatorium. Schaudernd schlich er am Ygâr-Dá vorbei, als befürchte er, seine Schritte könnten die ghulischen Wachen, deren verwesten Fragmente dort ruhten, wiedererwecken. Trotz des Lichtes und der Farben legte sich eine bedrückte Stimmung um sein Herz. Überall, in allen Gebäuden ruhten die Leiber von Menschen, vergessen, tot, um des Nachts nichtsahnend ihre Nicht-Existenz fortzuführen, dumpf, betäubt, folgsam, ausgeliefert. Menschen die einst gelebt hatten, die geliebt wurden, und die nun verloren schienen im ewigen Dunkel der Nacht, und die darum nicht wussten, nicht wissen wollten, wegen der Angst, die lauernde Erkenntnis darunter vernichtete die Seele ob des Entsetzens, des Schmerzes, der Verlorenheit im ewigen Nichts.
Erregt stieg er die wohlbekannten Stufen empor, legte die Instrumente sorgfältig in den Schatten im Innenhof und gelangte über Tür und Treppe an seine alte Arbeitsstätte. Es war ihm unheimlich zumute, wusste er doch, dass bereits in der nächsten Kammer Beda ruhte, in jenem mutierten Zustand, der ihn so abgestoßen und doch angerührt hatte.
Knarrend öffnete er die Tür zu Bedas Schlafgemach.
Ja, dort lag Beda.
Sein Zustand hatte sich nicht wesentlich verändert. Die Blase über der Augenbraue war jetzt vollständig eingetrocknet, die Augäpfel waren vielleicht noch tiefer in die Höhlen gesunken; dies konnte aber auch nur seine fehlerhafte Erinnerung sein.
Sanft öffnete er die Finger von Bedas Händen. Er suchte die rote Rose aus, die er mitgebracht hatte, und faltete Bedas Hände so, dass sie sie festhielten.
Dann wandte er sich ab. Mehr war jetzt nicht zu tun.
Cello und Geige geschultert, machte er sich nun auf den Weg zum Schloss. So sonnenbeschienen machte es nur durch die Erinnerungen einen bedrohlichen Eindruck. Eigentlich schien es freundlich, und auch der große Toreingang hätte einladend gewirkt, wenn Dankwart nicht voller angespannter Furcht gewesen wäre, die sich jetzt wieder recht deutlich meldete.
Diesmal wählte er nicht den Weg zur Kaserne, sondern ging direkt durch den zentralen Durchgang hindurch.
Zunächst zögerte er, als er die völlige Dunkelheit betrat. Angestrengt lauschte er. Dann öffnete er sein Bündel, förderte Ludwigs Sturmlaterne zutage und entzündete sie.
Jetzt konnte er endlich die ungeheure Höhe der Eingangshalle ermessen, obgleich sich das Gewölbe hoch oben in tiefer Finsternis verlor. Die Mauer vor ihm dagegen, an der er sich einst so vorsichtig entlanggetastet hatte, war wesentlich kürzer, als gedacht. Jetzt konnte er zügig vorangehen, trat durch die reliefverzierten Bögen in den Bereich dahinter, der von dem gewaltigen schwarzen Vorhang begrenzt wurde.
Dahinter also lag das energetische Zentrum dieser Welt, der zentrale Kenotaph.
Dankwart fischte entschlossen Bertholds scharfes Messer heraus und stieß es erst vorsichtig, dann immer kraftvoller durch den dicken Stoff. Erst wollte es ihm nicht gelingen, denn das Gewebe erschien von immenser Stärke. Doch als er mit der Messerspitze endlich ein Loch gebohrt hatte, gelang es ihm schließlich wesentlich leichter, den Vorhang zu schlitzen.
Er steckte den Kopf durch die neugeschaffene Öffnung und lugte hindurch.
Alles war genauso, wie er es damals vorgefunden hatte. Die gleichen gigantischen Säulen, die leuchtenden Dreifüße, das tempelartige Gebäude in der Mitte. Doch das, was er suchte, nämlich einen Aufgang zur Galerie, konnte er hier drinnen nicht finden.
Dennoch arbeitete er sich durch den Schlitz hindurch und ging die Treppenstufen hinunter.
Unruhig blickte er nach oben. Auf der Galerie war niemand zu sehen, doch angesichts der Dunkelheit beruhigte ihn dies nur wenig.
Dann stand er wieder vor der reichverzierten Tür, die er jetzt zügig aufdrücke.
Jetzt plötzlich war er sehr aufgeregt. Ob Harlan dort war?
Doch er fand den rieseigen Tempelraum vollständig leer. Keiner der zahlreichen Nischen war besetzt.
So wandte er sich ab und verließ das Kenotaph. Er stieg wieder die Stufen hinauf.
Er schlüpfte wieder in den Vorraum und begann, ihn dem Verlauf des Vorhanges folgend abzugehen. Jetzt, wo etwas Licht ihm den Weg zeigte, war dies einfach. Dennoch ging er äußerst langsam, auf jedes Geräusch achtend.
Da war es wieder. Als ob ein Steinchen
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