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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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weitermachen, solange ich mich etwas erhole?“
    „Deshalb bin ich ja hier“, sagte Uriel.
    Kraftvoll begann er, mit dem Messer das nächste Seil zu bearbeiten. Er arbeitete schneller als Dankwart, und bald riss es entzwei.
    Wieder vernahm Dankwart das unheimliche Klappern und Rieseln.
    „Mach dir keine Sorgen“, flüsterte Uriel, „das sind Aram und Raphael. Sie kommen, um uns zu helfen.“
    Tatsächlich schlichen zwei große, geduckte Männer nach einer Weile zu ihnen, die Dankwart als die beiden Mitbrüder erkannte.
    „Ich danke euch“, sagte Dankwart beglückt, „aber das ist doch gefährlich für euch!“
    „Für dich etwa nicht?“ flüsterte Raphael zurück. „Du brauchst nun wirklich nicht alles alleine machen.“
    „Wir müssen uns nur vor dem Licht in Acht nehmen“, sagte Aram.
    „Ich habe bereits etwas Licht gesehen!“ sagte Raphael. „Hinter dem Vorhang scheint es Fenster zu geben!“
    „So lasst uns erst einige dieser Seile unversehrt lassen!“ entschied Uriel. „Durchtrennen wir etwa zehn dieser Schlaufen, und lassen eine jeweils stehen!“
    Zu Dankwart gewandt sagte er: „Dies sind dann die restlichen Halterungen, die nur du imstande bist, unbeschadet zu lösen! Das Licht wird hier dann alles erleuchten! Niemand wird dann des Tages diesen Ort betreten können außer dir!“
    Aram und Raphael hatten bereits die nächsten Seile durchschnitten. Zu zweit übten sie größeren Druck aus, und so schafften sie dies in einem Bruchteil der Zeit.
    Nach mehreren Stunden hatten sie die Galerie einmal umrundet. Der gesamte Vorhang hatte sich merklich gesenkt, doch immer waren es mehrere hundert Schlaufen, die, jetzt zum Zerreißen gespannt, das ungeheure Gewicht noch hielten.
    Raphael wirkte erschöpft. Aram saß schwer atmend auf dem Boden.
    „Es hilft nichts“, sagte Uriel schwach, „wir müssen noch einige Seile mehr durchschneiden.“
    Dankwart ergriff das Messer, das sich inzwischen deutlich stumpfer anfühlte. Er legte es an das Marmorgeländer und wetzte es hin und her.
    „Setzt euch in den Schatten“, flüsterte er den anderen zu. „Ich durchtrenne jetzt diese Schlaufe hier, und dann werden wir sehen, was passiert.“
    Er hatte wieder seine Kraft zurückgewonnen und bearbeitete verbissen das Seil. Es war derart straff gespannt, dass er innerhalb kürzester Zeit fertig war. Es zersprang mit einem lauten Ton bereits nach mehreren Schnitten. Krachend rauschte der Vorhang nach unten. Die restlichen Halterungen ächzten.
    Klopfenden Herzens sah er auf seine Freunde.
    „Ich nehme jetzt die übernächste. Das nächste lasse ich noch vorsichtshalber stehen“, verkündete er.
    Wieder brauchte es nur weniger Schnitte, und das bis zum Zerreißen gespannte Seil ließ den Vorhang rauschend hinabsacken.
    Dankwart huschte wieder zu seinen Freunden zurück.
    „Ich werde jetzt das nächste Seil durchtrennen“, sagte er. „Dadurch, dass es jetzt so einzeln ist, wird viel Gewicht auf einmal frei. Das wird vielleicht den ganzen Vorhang hinunterreißen. Also begebt euch in Sicherheit.“
    „Nein!“ sagte Uriel. „Ich will es sehen! Ich möchte dabei sein, wenn das Licht die Finsternis vertreibt!“
    „Dies ist ein großes Ereignis!“ bekräftigte Raphael. „Dies ist womöglich die Stunde unserer Erlösung!“
    „Wir werden dadurch bald so werden wie du!“ sagte Aram erregt.
    „So sei es!“
    Dankwart umklammerte das schicksalhafte Messer und näherte sich dem ächzenden Seil.
    Er setzte das Messer an.
    Ein Atemzug.
    Ein Schnitt.
    Mit einem tönenden Klang sprang, riss das dicke Seil. Es gab einen ungeheuren Ruck. Geräuschvoll brauste der schwere Stoff nach unten. Mit großer Wucht zersprang ein Seil nach dem anderen. Sie zerrissen so schnell nacheinander, dass es sich wie ein heftiges Vibrieren anhörte. Donnernd stürzte der gewaltige, schwere Vorhang nach unten und beendete seinen Fall mit einem krachenden Aufprall.
    Mit einem Mal war die riesenhafte Halle von goldenem Licht durchflutet. Durch große, runde Fenster, die der Vorhang vollständig verdeckt hatte, fielen Lichtstreifen ein, die sich alle in der Mitte trafen, und den Kenotaphen in ein helles, unwirklich verklärtes Heiligtum verwandelten. Die riesenhafte Kuppel offenbarte sich nun als mit tausenden von goldenen Kassetten bedeckt, die das Licht glitzernd und schimmernd reflektierten. Wärme erfüllte die ganze Atmosphäre, als ströme belebender Atem herein und erfülle jede Ritze, jede Nische mit Lebendigkeit und

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