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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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Fragen, und er erhielt die Antworten dazu. Der kleine, rundliche Pater geriet schnell ins Erzählen, denn die Heilkunde war seine Berufung, und er freute sich an Benedikts Interesse.
    In seinem Labor lernte Benedikt den Umgang mit der Feinwaage, dem Mörser, den Kolben und der Siedepfanne. Das Trocknen der Kräuter, das Schneiden, Rebeln, Pulverisieren, Mahlen, in allen Fertigkeiten erwarb er sich alsbald soviel Geschick, dass der Pater ihn zunehmend alleine arbeiten ließ. Bis er ihm eines Tages ein Buch vorlegte, und ihn anwies, die dort beschriebene Essenz zuzubereiten.
    Auf Benedikts ungewöhnliches Zögern hin stutzte er. Er überlegte, ob das, was sich als Vermutung in ihm manifestierte, tatsächlich wahr sein könnte, um dann zu erkennen: natürlich war es wahr. Wie hätte es auch anders sein können? Manchmal war auch er blind wie ein Maulwurf.
    „Er kann nicht lesen“, stellte er fest.
    Benedikt sah beschämt zu Boden.
    „Nun, dann wird er es lernen. Setze er sich auf den Stuhl dort.“

    Das Lesen eröffnete für Benedikt das Tor zu einer anderen Welt, einer weiten, vielschichtigen, abenteuerlichen Welt, die ihm bisher ein unergründliches und unerreichbares Mysterium gewesen war. Die raschen Fortschritte, die er auch hier machte, ließen ihn erkennen, dass er all die Bücher, die in der großen Klosterbibliothek waren, würde lesen können wenn er wollte, obgleich er des Lateinischen natürlich auch zunächst nicht mächtig war. Pater Medardus hatte sich aber offenbar fest vorgenommen, aus ihm seinen Meisterschüler zu machen, und unterrichtete ihn streng und unerbittlich, aber doch mit jener väterlichen Wärme, die Benedikt bisher nie kennengelernt hatte.
    Des Abends las er seinen kleinen Geschwistern vor, die spannenden Geschichten von der Erschaffung des Menschen und der verbotenen Frucht, von Moses, der sein Volk aus der Knechtschaft führte und die Fähigkeit hatte, selbst das Meer zu teilen, vom kleinen David, der gegen den mächtigen Riesen Goliath im Kampf gewann und vom klugen König Salomo. Und von einem heiligen Mann, der die Liebe predigte und Menschen heilte, ja selbst den Tod besiegen konnte.
    Christophs Krankheit konnte nicht besiegt werden. Er starb im Alter von zwölf Jahren. Pater Medardus war persönlich gekommen, um ihm den letzten Segen zu geben.
    „Fühlet die Trauer“, sagte er leise, „denn sie zollt dem geliebten Menschen, der gestorben ist, die Achtung, die er verdient. Doch dann lebet weiter, denn die Toten sind nicht wirklich fort. Sie sind nur vorangegangen.“
    Benedikt starrte auf den kleinen, leblosen Körper, der dort vor ihm lag und kämpfte mit den Tränen.
    „Werden wir eines Tages in der Lage sein, diese Krankheit zu heilen mit Hilfe unserer Heilkunst?“ fragte er tonlos.
    „Darum bete ich. Dafür kämpfe ich. Mag dein Wissen und auch meines auch noch gering sein. Es wird wachsen.“

    Trotz aller Traurigkeit verlebten die Hofmeister-Kinder eine Kindheit, die man nicht nur unglücklich nennen kann. Sie wirtschafteten erfolgreich miteinander, und sie hatten leidlich gut zu essen. Zusammen sammelten sie Beeren, lasen Fallobst auf, suchten Pilze im Wald, klaubten Holz und Äste für den Winter. Nachbar Knappertsbusch war gerne bereit, gegen einen Krug Bier ordentlich zur Hand zu gehen. Vor allem: Die kleine Familie besaß Geld.
    Dies hatte sich zugetragen, als Benedikt eines Tages bei Ausbesserungsarbeiten auf dem Dache eine Kiste aus Flechtwerk entdeckte, die dort an einem gut trockenen Ort ihren Inhalt bewahrte. So direkt unter dem Dach hatte sein Vater früher Kräuter getrocknet, zumal im Winter die Wärme des Kamins bis dorthin gelangte.
    Die Kiste war randvoll mit Wurzeln, dunkelbraunen Wurzeln von bizarrer Form und eigenartiger Gestalt. Einige sahen aus, wie pflanzengewordene, zwergenhafte Menschen.
    Zunächst wurde es ihm unheimlich. Ob es sich um Hexenwerk handelte? Hexen wurden in den Städten oft öffentlich verbrannt.
    Dennoch getraute er sich schließlich, Pater Medardus eine davon mitzubringen. Unsicher, ob er damit das Richtige tat, holte er die Wurzel unter seinem Mantel hervor.
    Pater Medardus geriet darüber in höchste Erregung.
    „Wo hat er das her?“
    Er wirkte nicht wutentbrannt, wie Benedikt befürchtet hatte, sondern von überbordender Ungeduld.
    „Sag’ er schon! Woher?“
    „I-i-ich habe es aus einer alten Kiste meines Vaters“, stotterte Benedikt.
    „Gibt es derer noch mehr?“
    Pater Medardus’s Blick war jetzt bohrend. Doch

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