Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
mit dem zwar schmalen, aber geschwungenen Mund, einer eher langen Nase und dem charakteristischen Kinn ein markantes Aussehen verliehen. Vielleicht war es jener Akzent, der Ludwig diesmal davon abhielt, sein übliches „Nein danke, ich sehe mich nur um“, zu entgegnen, denn optisch sah sie in ihrer Leinenbluse und bunten Stoffhose eher nach Woodstock aus, anders als die Art von eleganter Frau, die ihn sonst interessierte. Zwei Jahre lang hatte er in Schottland studiert, und dieses Zusammentreffen jetzt hier in seiner bayerischen Heimat fühlte sich sofort vertraut und anheimelnd an. Er schaute ihr direkt in die Augen.
    „Gerne. Ich glaube, eine echte Schottin kann mich da besonders gut beraten“, antwortete er in lokal gefärbtem Englisch. In einer fremden Sprache fiel ihm das Flirten immer erheblich leichter.
    „Oh!“ Sie lachte erstaunt und zeigte dabei ein paar scharfe Eckzähne. „Ein Insider! Womöglich brauchen Sie da meinen Rat gar nicht?“
    „Das will ich doch nicht hoffen! Ich bin ganz unbewandert!“ sagte er und setzte eine entsetzte Miene auf. „Ich muss unbedingt von Ihnen beraten werden!“ Er merkte jetzt, dass er aufgeregt war, denn ansonsten war er eher zurückhaltend. Er erinnerte sich an den Charme seines Großvaters, von dem man ihm oft erzählt hatte.
    Sie suchte einige Bücher aus und breitete sie vor Ludwig aus. Sie bemühte sich dabei, möglichst unbeteiligt zu wirken, aber die Grübchen in ihren Wangen verrieten ein unterdrücktes Lachen.
    Er beobachtete ihre anmutigen Hände. Erwartungsvoll schaute sie auf. „Dies hier ist ein wundervoller Bildband über Edinburgh“, erklärte sie und schlug ein großformatiges Buch auf. „Besonders interessant ist die Zusammenstellung von aktuellen Photographien und historischem Material. Sehen Sie?“
    „Stammen Sie aus Edinburgh?“ fragte Ludwig. Sie blätterte unbeirrt weiter.
    „Da!“ sagte sie anstatt zu antworten, und deutete auf ein Detail auf einer Luftaufnahme, „das ist mein Elternhaus.“ Ihr kurz abgeschnittener Fingernagel zeigte auf ein Reihenhaus in der Neustadt. „Zufrieden?“
    Ludwig grinste. Er zeigte auf ein anderes Haus. „Dort!“ sagte er, „dort habe ich zwei Jahre gewohnt.“
    „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ fragte sie keck und verschränkte ihre Arme.
    Ludwig sah hilflos drein und erinnerte sich an das Whiskybuch in seiner Hand. „Verstehen Sie etwas davon?“
    Sie hob den Kopf und übte sich in einem blasierten Blick. Das untergründige Lachen blieb. Der Dialog machte ihr offenkundig Spaß. „Als Schottin? Ehrensache!“
    Sie bewegte sich auf ein Regal zu und kehrte im Nu mit einem Stapel Bücher zurück. Sie empfahl ihm ein kleines rotes Buch „für Kenner“. Ludwig kaufte es zusammen mit dem Bildband. Er bedauerte es, mit seinem Gang zur Kasse das Gespräch beenden zu müssen, aber andere Kunden hatten bereits ihre Bedürfnisse angemeldet. Zerstreut zahlte er die Bücher und konnte sich nicht recht entschließen, die Buchhandlung zu verlassen. Er sah auf die Uhr. Zeit nach Hause zu gehen und sich umzuziehen für die Opernaufführung heute abend.
    Wehmütig schritt er zum Ausgang und griff nach dem Türknauf.
    „Wann waren Sie denn dort?“
    Sie stand neben ihm und fragte wieder auf Deutsch.
    „Oh, das war ... vor vier Jahren. Ich habe dort Architektur studiert.“
    „Vor vier Jahren? Oh Gott, da war ich ja erst fünfzehn!“

    Ludwig war diesen Abend von vielen eigenartigen Stimmungen erfüllt. Normalerweise hatten Opern für ihn immer Längen, aber diesmal war er die ganze Zeit von angeregter Spannung erfüllt.
    „Stets soll nur dir, nur dir mein Lied ertönen!“ sang Tannhäuser.
    Was für eine wunderbare Melodie zu dieser bezaubernden Harfenbegleitung. Fast ein wenig keltisch.
    Schottisch!
    Er stellte sich vor, die reizende Buchhändlerin säße jetzt neben ihm. Er hatte eine gute, ja euphorische Stimmung seit dieser Begegnung. Eigenartig. Sie sah so schlicht aus, ganz natürlich, kein Tupfen Schminke, dazu blass, dazu dieses farblose, eigentlich langweilige Haar. Sie war so völlig anders als alle Frauen, für die er jemals etwas empfunden hatte, so dass er sich bald wieder der Musik zuwandte.

    „Dein süßer Reiz ist Quelle alles Schönen,
    und jedes holde Wunder stammt von dir.“

    Bald meldete sich wieder ein Gedanke. Ganz kurz war er. Es war merkwürdigerweise die Erinnerung an ihre Zähne. Mit diesen geschwungenen Lippen darüber. Spitze Eckzähne, sogar etwas

Weitere Kostenlose Bücher