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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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dazu wehte ein leichter kühler Wind. Totenstille. Er stieg ab und küsste Lenis Gesicht. Langsam wurde sein Atem etwas ruhiger. „Na? Wie geht’s dir jetzt?“ sagte er. Er bemühte sich um ein Grinsen, aber es ging ihm irgendwie schlecht. Ein schales Gefühl.
    „Na komm. Ich bring’ dich, wohin du willst.“
    Lenis Augen blickten starr.
    „He!“
    Er rüttelte sie. Keine Antwort. Es wurde ihm unheimlich.
    „Hör auf mit der Scheiße!“ sagte er scharf. Sie gab keinen Laut.
    Die entsetzliche Ahnung, die gerade in ihm hochgestiegen war, verdichtete sich nun zu einer grauenhaften Erkenntnis. Ihr Körper war schlaff und leblos. Was für eine Masche war das denn wieder? Er knallte ihr eine. Keine Reaktion. ‚Nein! Nein!’ schrien tausend Stimmen in ihm. Aus einem entfernten Winkel seines trüben Geistes meldeten sich seine medizinischen Fähigkeiten in Form der lebensrettenden Sofortmaßnahmen aus dem Erste-Hilfe-Kurs. Er versuchte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Nichts. Ihr Herz schlug nicht. Verfluchte, verdammte, elende Scheiße! Er drückte ruckartig auf ihr Brustbein, dass es knackte. Scheiße, scheiße, scheiße! Nichts half. Vorbei.
    Robin heulte. Der Rotz rann aus seiner Stupsnase. Wie konnte ihm das passieren! Ihm, der sich immer als edler Liebhaber gesehen hatte, als Gentleman. Und jetzt das hier mit dieser elenden, verdammten kleinen Nutte, die sich hier einfach aus dem Staub machte.
    Plötzlich sah er panisch um sich. Niemand durfte ihn hier sehen! Sein ganzes Leben, seine ganze geplante Karriere könnte sonst verpfuscht sein! Noch immer war es totenstill. Nur der Bach gluckerte vor sich hin. Er rollte zähneklappernd den toten Köper nah an die Mauer, dort, wo die Brennnesseln am dichtesten wuchsen. Dort ließ er sie liegen. Er huschte auf die Straße. Im Laternenlicht sah seine Kleidung ganz ordentlich aus. Ein Erdfleck war am rechten Knie, seine Haare waren etwas zerzaust. Er ging, versuchte ruhig und unauffällig zu wirken. Ein Brennen auf seiner Wange alarmierte ihn. Lenis Biss! Im Rückspiegel eines parkenden Autos untersuchte er sich verstohlen. Das Blut war klebrig angetrocknet. Diese idiotische Kuh! Es hätte so schön werden können! Stattdessen zerstörte sie womöglich sein Leben! Er wischte das Blut mit einem Papiertaschentuch notdürftig ab. Er bog in eine dunkle Seitenstraße ein und machte dann, dass er nach Hause kam.

    „Und meine Seele spannte
    Weit ihre Flügel aus,
    Flog durch die stillen Lande
    Als flöge sie nach Haus.“

    Eigenartigerweise kamen Leni ausgerechnet diese Worte in den Sinn, als Robin ihren Kopf auf den Boden knallte. Mondnacht. Ein schönes Gedicht, das sie immer ganz bezaubert hatte. Sie hatte bereits aufgehört, etwas zu fühlen. Ihre schlanken Hände regten sich nicht mehr, ihre Wange hatte aufgehört zu pochen. Er mochte machen, was er wollte. Es machte nichts mehr. Dann wich die Umgebung von ihr weg, ließ sie alleine zurück in einer samtigen, warmen Dunkelheit. Ein kurzer Gedanke noch an ihre Mutter, an ihren Vater.
    „Ich falle euch nicht mehr zur Last!“ rief sie ihnen zu.
    Ohne jeden Groll. Es war gut so.
    Ein dankbarer Gruß noch an Richard.
    Ein zärtlicher Kuss von jemandem, den sie nicht kannte, berührte sie sanft.
    Dann wurde es dunkel und warm.
    Das, was war, das, was kommen würde – es war unwichtig. Auf einmal wusste sie, dass sie nun dazugehörte. Sie gehörte dazu, zu allen, allen Menschen, den Tieren, den Pflanzen, den Steinen, den Sternen. Und sie flog fort.
    Leicht, ganz leicht war es auf einmal.
    Und ihre Seele spannte die Flügel aus.

Lang ist die Wanderung,
die Wege sind lang
Lang ist der Menschen Verlangen
Wenn es sich fügt,
dass sich erfüllt dein Wunsch
So lacht dir günstiges Glück.
EDDA, Grogaldr

    „ S uchen Sie etwas Bestimmtes? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“
    Ludwig hörte deutlich den vertrauten schottischen Akzent in ihrer hellen, aber volltönenden Stimme. Dies passte zu diesem verregneten Junitag im Jahr 1975, der Ludwig zum Besuch dieser Buchhandlung getrieben hatte. Dabei war er bei einigen Bildbänden über Edinburgh hängen geblieben und blätterte gerade in einem Führer über Malt Whisky.
    Ludwig sah auf.
    Sie war jung und schlank, und hatte lange, zurückgebundene Haare von jenem unauffälligen, unspektakulären dunklen Blond, sowie Brauen und Wimpern derselben Farbe. Ein eher blasser Typ mit ein paar Sommersprossen, tiefliegenden grauen Augen und eigenartig ausgeprägten Unterlidern, die ihr zusammen

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