Die schlafende Stadt
lächelte mit ihren schönen, scharfen Zähnen. Sie hatte die Haare offen wie eine wilde Mähne und auf der Brust hing ein schweres bronzenes Amulett. Zu einer weißen Bluse trug sie einen langen, eleganten Rock. Wie eine Fee aus einer verwunschenen Welt sah sie aus. Sie war schön. Schöner noch, als er sie erinnerte. Die Liebe, die ihn durchströmte, pulsierte, durchströmte alle seine Adern. Er bemerkte, dass seine Knie zitterten.
Er begrüßte sie auf Englisch, dies machte es einfacher für ihn. Konzentration machte ihn wieder etwas mehr zum Herrn seiner Sinne. Sie schien es zu freuen, ihn zu sehen. Sie sahen sich in die Augen. Ludwig reichte ihr die Speisekarte. Fasziniert beobachtete er sie. Jede Bewegung war voller Anmut, jeder Blick voller Zauber. „Bestell dir, was du willst“, sagte er, „ es soll vor allem gut schmecken.“
„Ja, wenn das so ist ...“ sagte sie und schenkte ihm einen schelmischen Blick. Sie scheute sich nicht, etwas Teures auszusuchen. Bald hatten sie bestellt und der Kellner hatte beiden ein Glas Wein eingeschenkt. Und dann sprachen sie.
Sie erzählte von ihrer Kindheit in Edinburgh, von ihren beiden Brüdern und ihrem Vater, der die Familie schon lange verlassen hatte. Ludwig erzählte von seiner alten Sehnsucht nach Schottland, die er schon als kleiner Junge verspürt hatte, von seiner Mutter, die verstorben war, als er zwölf Jahre alt war, und seinem unverwüstlichen Vater. Sie ließ ihn ebenso wie er teilhaben an verhaltener Traurigkeit. Ludwig war glücklich. Das Essen war köstlich, der Wein war gut, und er spürte die Nähe. Kein peinliches Schweigen, kein hektisches Gerede. Schön war es, leicht, trotz mancher trauriger Themen. Wunderschön. Ludwig sagte es ihr rundheraus. Der Nachtisch war längst gegessen, der Wein war ausgetrunken, und noch immer saßen sie beisammen. Dann gingen sie noch spazieren. Warm war es, obgleich die Sonne längst untergegangen war. Ludwig konnte es fast nicht glauben, wer da neben ihm ging. Unzählige Male hatte er es sich schon ausgemalt, und nun war es Wirklichkeit. Als sie zusammen auf einer Bank saßen, streichelte er sie sanft an der Schulter.
„Nicht...“, sie schaute zu Boden.
„Es tut mir leid ...“ begann Ludwig.
Ein Rückschlag.
„Ich möchte es nur jetzt noch nicht“, sagte sie. Sie sah ihn an. „Es ist sehr schön mit dir.“
Sie schien auf einmal traurig. Ludwig nahm ihre Hand. Sie sah in die Ferne. „Ich habe Angst davor.“
„Ich nicht.“
Sie sah Ludwig überrascht an. „Was macht dich denn so sicher?“ fragte sie.
„Es fühlt sich leicht an“, sagte Ludwig.
Ludwig brachte sie nach Hause. Es tat weh, sie gehen zu lassen. Sie ging zu ihrer Tür. Ob sie sich umdrehen würde? Ludwig beobachtete, wie sie nach ihrem Schlüssel kramte, ihn fand und die Tür aufschloss.
Da! Sie drehte sich um und winkte.
Ludwig durchströmte ein so starkes Gefühl von Verlangen und Glück, dass er es kaum aushalten konnte. Minutenlang saß er noch da in seinem Auto und konnte sich zum Fortfahren nicht so recht entschließen.
Ludwig hörte weder den folgenden noch den darauffolgenden Tag etwas von Carmilla. Er hatte auf ein Signal oder einen Hinweis gehofft, nachdem er seine Absicht doch recht deutlich gezeigt hatte. Andererseits war es Männersache, die Initiative zu zeigen. Dies barg aber die Gefahr, aufdringlich zu sein. Schließlich brach er kurzentschlossen zu der Buchhandlung auf. Er erinnerte sich an den Ratschlag seines Vaters, mit dem er vor vielen Jahren über Liebe und Liebeskummer (den er damals hatte) gesprochen hatte. „Von Taktik“, hatte er damals gesagt, „halte ich bei diesen Dingen nicht viel. Wenn du sie liebst, solltest du auf das hören, was dein Herz dir sagt, und danach handeln. Auch, wenn dein Verstand das für unvernünftig hält.“ – „Und wenn sie es aufdringlich findet, dass ich sie ständig sehen will?“ hatte er gefragt. „Möglich. Dann weißt du wenigstens Bescheid. Aber wenn du ihr nicht zeigst, was du fühlst, wird sie sich womöglich fragen: Was will er eigentlich?“
Einfache, solide Einsichten, an die er sich jetzt dankbar erinnerte.
Carmilla entdeckte ihn erst nach einer Weile. Ausgerechnet heute waren viele Kunden da. Flüchtig registrierte sie ihn.
Ludwig stand eine ganze Weile erwartungsvoll da. Dann trat er zu ihr hin.
„Haben Sie auch Bücher über Schottland?“ scherzte er.
Sie schlug die Augen nieder. Dann fand sie ihr spitzbübisches Lächeln wieder. Sie schaute
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