Die schlafende Stadt
davon gesprochen. Vermutlich hätte sie geradezu verstört reagiert, als er ausgerechnet dorthin ging zum Studieren. Für sie waren England und Schottland das Gleiche, soweit er sich erinnerte. Er selbst war von den britischen Inseln immer fasziniert gewesen. Jetzt studierte er ein ums andere Mal das Luftbild von Edinburgh und betrachtete durch eine Lupe das Haus, das sie ihm gezeigt hatte. Ein anderes Mal schalt er sich einen pubertierenden Idioten, sich quasi auf den ersten Blick in jemanden zu verlieben, den er überhaupt nicht kannte. Mit sechzehn machte man so etwas noch, aber nach den einschlägigen Erfahrungen und Enttäuschungen sollte man mit siebenundzwanzig Jahren darüber erhaben sein. Ludwig war am Anfang einer vielversprechenden Karriere, seit drei Monaten Teilhaber eines renommierten Architekturbüros, und langsam begreifend, dass sich etwas Entscheidendes im Leben verändert hatte. Kein Student mehr, nicht mehr im Werden begriffen und beurteilt von übergeordneten eingebildeten Lehrstuhlinhabern. Ludwig war jetzt selbst wer. Selten zuvor hatte er sich so sicher und unabhängig gefühlt. Und doch war ihm so elend und verloren wie lange nicht mehr.
Er verbrachte die gesamte Woche in konzentrationsloser Untätigkeit. Gedankenverloren saß er über seinem Zeichentisch und starrte auf nichtssagende Zeichnungen von Grundrissen und Isometrien.
Er schlief schlecht, denn der Schlaf hätte verhindert, an sie zu denken. Gegen Ende der Woche besserte sich sein Zustand. Jetzt ging er mehrfach ins Kino, um die Zeit schneller vergehen zu lassen. Er war ein begeisterter Kinogänger und bedauerte insgeheim, wie wenig er die Filme zurzeit würdigen konnte, die er sich ansah.
Dann kam endlich der Montag.
Den Tag im Büro verbrachte er mehr schlecht als recht in Anspannung und Unruhe. Der Nachmittag steigerte seine Spannung ins Unerträgliche.
Endlich ging es auf vier Uhr zu. Schwitzend griff er seine Tasche und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.
Er sah sie bereits durch die Glastür an einem Regal stehen. Er stellte sich erst vor das Schaufenster und lugte verstohlen ins Ladeninnere. ‚Mein Lieber, wenn das Zittern Deiner Lippen nicht aufhört, brauchst du gar nicht erst da reingehen’ sagte ihm sein souveräner Teil, der leider aus entschwindender Ferne zu ihm sprach und auch nicht viel Besseres zu bieten hatte.
Sie hatte ihn entdeckt. Von innen winkte sie und lächelte.
Er winkte zurück. Sein Herz quoll förmlich über vor Wärme. Er öffnete die Tür und ging hinein.
Diesen Abend kam Ludwig gar nicht mehr zur Ruhe. Er vollführte wahre Tänze in seiner kleinen Wohnung, drehte seine schottische Folkmusik laut auf und sprang überall herum und jodelte dabei. Sie hatte seine Einladung zum Essen angenommen, schon für morgen. Wenn das nicht ein Erfolg war!
Dann wurde ihm feierlich. Er entkorkte eine Flasche Wein und begab sich in Gedanken an das morgige Abendessen, sprach mit ihr und leerte mit ihr gemeinsam die ganze Flasche. Hinterher war er betrunken, aber genau dies hatte er heute Abend auch angestrebt. Ludwig trank nur Alkohol, wenn es ihm gut ging, und heute ging es ihm sehr gut, auch wenn die angstvolle Erwartung des möglichen Scheiterns nie ganz wegging.
Und wenn schon!
Er fühlte sich so lebendig wie selten. Er schlief auf seiner Couch ein und umschlang ein großes Kissen, als wäre es Carmilla.
Der nächste Tag zog sich dahin wie zähflüssiger Brei, nur dazu da, um vorbeizugehen. Gottlob schickte sich die Uhr endlich doch gnädig an, wieder den Feierabend anzuzeigen. Ludwig eilte nach Hause, duschte, rasierte sich nochmals, zog sein bestes Hemd an. Dann rätselte er darüber, ob er sich lässig oder elegant anziehen sollte. Er entschied sich für die Eleganz, das lag ihm mehr.
Er zog viel zu früh los, und wusste mehr als eine Stunde nichts mit sich anzufangen. Nachdem er durch zahlreiche Straßen gelaufen war und unendlich viele Schaufenster begutachtet hatte, die ihn nicht andeutungsweise interessierten, setzte er sich dann doch schon ins verabredete Restaurant und bestellte ein großes Bier. Er stürzte es zügig hinunter, und endlich breitete sich eine relative Gelassenheit in ihm aus.
Dann wurde es sieben Uhr. Ludwig zählte die Minuten. Ruhig, nur ruhig. Frauen brauchen immer etwas länger. Er bestellte sich noch einen Martini und nippte alle paar Minuten daran. Bloß nicht betrunken werden.
Dann kam sie.
Nach wenigen Blicken hatte sie ihn entdeckt und kam auf ihn zu. Sie
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