Die schlafende Stadt
nahm zerstreut die Würfel. Sieben Augen. Er setzte seine Figur sieben Felder vor.
„Ha!“ Friedhelm, der Dicke mit der spiegelnden Glatze und dem Backenbart, grabschte nach den Würfeln und wälzte sie knirschend in seiner Hand.
„Drei!“ Er verzog das Gesicht. „Da hast du nochmal Glück gehabt!“
Darius bemühte sich um ein triumphierendes Grinsen. Das Spiel langweilte ihn. Er hatte wohl bereits drei seiner Novizen zu Äbten machen können, wogegen der Dicke erst mit einem Ritter, dafür aber mit drei Knappen dastand.
Beda war an der Reihe.
„Pasch fünf!“
Beda zog mit seinem Händler über das Schicksalsfeld und machte ihn zum Kaufmann.
„Immer das Selbe mit dir!“
Urban rückte seine runde Brille von der Nasenspitze wieder an die richtige Stelle. „Manche Leute scheinen zum Gewinnen geboren.“ Er fuhr sich durch das immer zerzaust wirkende Haar. „Acht! Immerhin.“ Urbans Lehrlinge waren von ihren Magierwürden noch weit entfernt. Unzufrieden gab er die Würfel weiter.
„Das Schicksal kann sich schnell wenden“, tröstete ihn Darius. „Drei! Siehst du?“ Er schob einen Abt in Richtung Zentrum.
„Ha, ich ahne, was du vorhast!“ ereiferte sich Friedhelm. Wieder rieb er die Würfel knirschend in seinen fetten Pranken. ‚Er wird sie noch rund drehen’ dachte Darius.
Darius war zum ersten Mal erstaunt, wie man seine Zeit mit einem derart kindlichen Spiel verbringen konnte. Das Prinzip war lächerlich einfach. Man würfelte, zog mit seinen Figuren möglichst schnell auf die Schicksalsfelder, verwandelte sie in einen höheren Rang und machte sie dadurch schneller. War der höhere Rang erreicht, konnte man eine von ihnen zum König, Papst, Erzmagier oder Großkaufmann machen und in das Schloss im Zentrum einziehen. Fast jede Woche traf man sich in vertrauter Runde, und meistens verbrachte man sie mit Za’Mahandû – was soviel heißt wie „Einer aus Vieren“.
Darius schweifte heute ständig ab. Alles andere war interessanter als diese Zeitverschwendung. Seine Gedanken weilten ständig am Südturm und an dem Blick, den er dort durch sein Teleskop getan hatte. Er dachte an dieses schöne Gesicht mit den ausdrucksvollen Augen, in die er geblickt hatte. Sehnsucht. Das war es, dieses quälende, drängende Gefühl, das er empfand. Fieberhaft zerbrach er sich den Kopf, wo sich die schlanke, unbeschreiblich schöne Gestalt befinden mochte. Wo nur war das Boot hingefahren? Gab es womöglich eine andere Anlegestelle? Er war sich inzwischen fast sicher, dass es in der Stadt unausgesprochene Geheimnisse gab, die niemand lüften wollte.
„Darius!“
Schon wieder. Er würfelte abwesend und setzte seinen letzten Novizen auf ein Schicksalsfeld. Friedhelm schnaufte.
Darius ging in Gedanken die gesamte Geographie der Stadt durch. Fast alles, was er bereits gesehen hatte, bestand aus Steilküste, ungeeignet zur Schaffung eines zweiten Hafens. Wo nur könnte sie sein? Normalerweise hätte er Beda gefragt, aber etwas in ihm hielt ihn davon ab. Irgendetwas Fremdes war seit kurzem zwischen ihm und dem Freund, und er vermochte nicht, es zu erklären.
Das Spiel war zu einem glücklichen Abschluss gebracht, und man schickte sich an, zu gehen. Darius erfüllte nur unwillig die Etikette des Verabschiedens und den Ausdruck der Freude, sich bald wieder begegnen zu können. Er hatte überhaupt keine Lust, das monotone Ereignis jemals zu wiederholen und dachte genervt an die vielen endlosen Abende, die er in der Vergangenheit damit zugebracht hatte. Eigenartigerweise hatten die drei anderen den Abend offenbar genossen, sogar Beda, der in gewohnt lässiger Weise seinen eigenen Sieg mit ein paar geistreichen Sprüchen kommentierte. Erleichtert trat Darius aus der niedrigen Stube auf den Gehsteig. Beda und Urban hatten sich noch in ein Schwätzchen vertieft. Diesmal kam es Darius ganz recht. Er nutzte die Gelegenheit, um sich von dannen zu machen. Er beschloss, heute einen Umweg durch die Unterstadt zu machen, am Hafenviertel vorbei. Durch einen schmalen Torbogen konnte er über einige steile Treppenstufen die Malzgasse erreichen, die sich steil den Hang hinabschlängelte.
Kein Mensch war zu sehen. Alle hatten sich bereits aufgrund der späten Stunde in ihre Häuser zurückgezogen. Am Horizont zeigte sich bereits ein heller Streifen. Darius beschleunigte seinen Schritt. Bei einer plätschernden Quelle hielt er an. Er stand nicht weit von Hafen entfernt, wenn auch noch immer weit darüber. Im großen
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