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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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hinunter. Die Wellen hatten einen silbrigen Schimmer im Mondlicht, und die Sträucher am Ufer hatten eine gespenstische Lebendigkeit, wie lauernde Tiere, die sich schlafend stellten. Eine geradezu feenhafte Unwirklichkeit. Wenn er das so verwendete, könnte das viel zu dick aufgetragen wirken. Aber auf stimmungsvolle Schilderungen wollte er nicht verzichten.
    Er ging zur nächsten Schießscharte und sah hindurch. Dieser Blick brachte alle Planungen und Träumereien zu einem jähen Ende.
    Dort, an der Mauer zum Flussufer, zwischen dem Gestrüpp, lag eine Frau. Berthold sah zunächst nur ihre Hand; der restliche Teil lag im Schatten der Mauer. Berthold starrte hinunter. Der Augenblick schien wie festgefroren, es war, als starre Berthold stundenlang auf die gleiche Stelle. Ein junges Mädchen war es, die Bluse zerrissen, der Unterleib entblößt.
    Berthold war wie gelähmt. Fassungslos starrte er auf den leblosen Körper. Ein verdrängter, kaum bewusster Teil von ihm hatte bereits verstanden, was er dort wirklich sah. Sein Bewusstsein aber weigerte sich noch, es zu akzeptieren. Endlich schälte er sich mühsam aus der Klebrigkeit seiner Starre heraus. Wie im Traum verließ er den Dicken Turm, ging die Hexenstiege hinab wie in Zeitlupe. Gleichzeitig spürte er, dass sein Herz wie wild schlug, und dass er die Stufen in wilder Hast hinabstürzte. Qualvolle Sekunden zerrannen zäh und erbarmungslos. Endlich hatte er den Mauerdurchbruch erreicht und näherte sich dem leblosen Körper, der zwischen den Brennnesseln lag. Das, was sonst in der Zeitung zu lesen war, was in Filmen gezeigt wurde, hier war es entsetzliche Wirklichkeit. Es war sogar noch viel schlimmer, als Berthold es sich jemals vorgestellt hatte.
    Er kniete sich hin. Zitternd berührte er den Körper. Er fühlte sich kalt und schlaff an. Er schob seinen Arm unter ihren Nacken und hob ihren Oberkörper zu sich heran. ‚Was für ein hübsches Gesicht’ schoss ihm trotz aller Erregung durch den Kopf. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Dabei griff er in klebriges, kaum angetrocknetes Blut. „He!“ flüsterte er. „Hallo!“ Tausend Gedanken gleichzeitig. Die Angst, sie könnte tot sein. Die Gewissheit, dass sie tot war. Das Erstaunen, dass diese Angst sich ganz anders anfühlt wie die seiner Träume. Das Bedürfnis, ihren Mund zu küssen. Die Entrüstung darüber, ausgerechnet jetzt so etwas zu denken. Dazwischen die nüchterne Feststellung, hier am Flussufer zu sein, dass ein leichter Windhauch durch sein Haar fuhr. Berthold entdeckte erst jetzt, dass die Brennnesseln ihm den ganzen Unterarm gebrannt hatten.
    Plötzlich war er wieder in der Wirklichkeit. Berthold zog das Mädchen aus dem Gestrüpp heraus und legte sie vorsichtig in das Gras zurück. Jetzt, wo sie das Mondlicht beschien, zeigte sich erst, dass ihr Gesicht voller Blutergüsse war. Hastig zog er seine Jacke aus und bedeckte ihren nackten Unterleib. Er versuchte, sich auf seine Erste-Hilfe-Kenntnisse zu konzentrieren. Er konnte weder Atem noch Herzschlag entdecken. Erst presste er seinen Mund auf den ihren und blies ihr seinen Atem in die Lungen. Fünfmal. Sechsmal. Keine Reaktion. Er rammte seine Handflächen gegen ihr Brustbein, dreimal hintereinander. Pause. Noch einmal. Pause. Noch einmal. In wilder Hast versuchte er erneut die Beatmung. Er wusste weder, ob dies Sinn machte, noch, ob er all dies überhaupt richtig machte. Nur irgendetwas machen. Er war jetzt ganz konzentriert, völlig emotionslos. Er bearbeitete nochmals das Brustbein. Wieder und wieder. Zehnmal hintereinander, mit aller Kraft. Er meinte zwischendurch, etwas knacken zu hören. Egal. Weiter. Erneut blies er seinen Atem in sie hinein, noch stärker und heftiger als zuvor.
    Auf einmal hörte er ein Röcheln. Berthold holte tief Luft, bog ihren Kopf nach hinten und atmete in sie hinein, was er hatte. Ein Husten war die Folge. Ein rülpsendes Geräusch brachte weißlichen Schleim hervor und rann ihre Wange hinab.
    Berthold rannte auf die Straße und drückte sämtliche Klingelknöpfe an jeder Tür, die er finden konnte. Er hämmerte und trat dagegen, bis sich ein verschlafener und ausgesprochen missmutiger Bürger fand, der dann aber doch schnell begriff, dass der beschmutzte und zerzauste junge Mann offenbar einen guten Grund hatte, so verstört zu sein.

Verschließet Augen und Mund,
auf dass eure Augen und euer Mund
nicht verschlossen werden.
    Kaddharsiaden LXIII 24a-c , Than’t Thranath

    „ D u bist am Zug!“
    Darius

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