Die schlafende Stadt
zögerlich erzählt hatte, bestätigte für Claudine ihr Bild vom egomanen, lüsternen Triebtäter, als die sie Männer grundsätzlich anzusehen pflegte. Außer einem einzigen Mal war sie noch nie einem Mann nähergekommen, und dieses eine Mal war für sie eine Lehrstunde gewesen in Sachen Unbeholfenheit, Selbstüberschätzung und letztendlich – Langeweile. Einundzwanzig war sie damals gewesen, und ihr damals gleichaltriger Verehrer hatte vor Erregung gezittert. Als er sich vor ihr endlich entblößt hatte, hatte er sie erwartungsvoll angesehen, als ob sein erigiertes Glied die Erscheinung die Offenbarung aller Herrlichkeit sei. Unsensibel hatte er sich dann auf sie gestürzt, griff gierig und roh nach ihren Brüsten, und hielt das offenbar für sinnlich. Als sie alles ertragen hatte, war er schwer beleidigt gewesen, dass sie vor Entzücken nicht vor ihm niedergesunken war. Und dann hatte er sie typischerweise beschimpft, nannte sie geil und hurenhaft und machte sich von dannen, jämmerlich und aufgeblasen, ein kleiner, nichtssagender Wicht. Erst fühlte sie Ekel sich selbst gegenüber, dass ausgerechnet er der einzige Mann in ihrem Leben sein sollte, dem sie sich je hingegeben hatte. Dann begann sie, ihn zu verachten. Das fühlte sich besser, stimmiger an. Er war ihr Experiment gewesen, nichts weiter, und er hatte ein klägliches Ergebnis hinterlassen. Nein, seitdem wusste sie sicherer denn je, dass sie bei den Männern nichts versäumte.
Sophia dagegen erweckte in ihr Regungen, die sie in dieser Form lange nicht, wenn überhaupt schon einmal gefühlt hatte. Verzückt betrachtete sie die elegante Gestalt, wenn sie so konzentriert und doch so lebendig musizierte, die schlanken Finger, die anmutigen Bewegungen. Verstohlen atmete sie ihren Duft, wenn sie sich zu ihr beugte, um eine schwierige Passage zu üben. Ganz nah schmiegte sie sich dann an sie, und die Wärme ihres Körpers erfüllte sie mit einer Lebendigkeit, die ihr noch nachts den Schlaf raubte.
Mit keinem Wort erwähnte sie Sophia gegenüber ihre Gefühle. Wohl aber ließ sie sie ihre Zuneigung und Solidarität spüren und merkte wohl, dass dies auf dankbare Ohren stieß. Dass sie selbst aus gutem Hause stammte, kam ihr nun zugute. Sie besaß dadurch eine gewisse Macht. Es war nicht schwierig, im Hause Hirschfeld eine intensivere Betreuung ihrer Schülerin durchzusetzen. Selbst kleinere Ausflüge in die Stadt und ein Opernbesuch am Abend wurden gewährt. Sophias Onkel war eifrig bemüht, seine Unterstützung glaubhaft zu machen. Ob er ein schlechtes Gewissen hatte? Oder ob er nur seine Chancen verbessern wollte?
Sophia las den Brief mit Schmerzen. Nie hatte sie sich ihrer Familie ferner gefühlt als jetzt. In ihre Traurigkeit mischte jedoch auch bald darauf die Verbitterung über ihre Einsamkeit und über die Demütigungen, die ihr so leichtherzig zugemutet wurden.
Claudine spürte die gedrückte Stimmung, unter denen ihre Schutzbefohlene litt. Sie wagte aber nicht, sie darauf anzusprechen, um sie nicht zu verscheuchen. Stattdessen bereitete sie alles für einen angenehmen Opernbesuch vor. Sie nahmen einen Imbiss in einer ebenso kleinen wie vornehmen Brasserie ein, und Claudine gelang es, Sophia ein wenig Champagner einzuflößen. Verzückt beobachtete sie die sich rötenden Wangen, und die zierlichen Hände, mit denen Sophia ihre Pastete durchschnitt. Möge es ihr nur schmecken, so gut es ging.
Die festliche Stimmung in der Pariser Oper vertrieb die Sorgen und die Einsamkeit aus der Seele. Es war eine andere Welt, in die man hier eintauchte, vornehm, affektiert, und dennoch atmosphärisch und geheimnisvoll. Claudine stellte Sophia einigen Bekannten vor und fühlte ebensoviel Stolz wie Unbehagen, als sie die verzückten und oft unverhohlen lüsternen Blicke einiger junger wie auch alter Männer registrierte. Wundervoll sah sie aus in ihrem lavendelfarbenen Kleid. Klar, sie alle würden am liebsten ihren Mund auf diesen wogenden Busen drücken, ihr Gesicht zwischen diesen schlanken Schenkeln vergraben. In einem Gefühl des Besitzes griff sie Sophia am Arm.
Sophia spürte Claudines Verlangen nicht. Sie war viel zu sehr mit der Entdeckung einer neuen Welt beschäftigt. Aufregend war sie, bunt und gefährlich. Sie hatte längst durchschaut, dass Schein und Etikette alles waren, Blöße und Schwäche dagegen der Untergang. Aber es war ein Spiel. Sie merkte, dass sie es von Anfang an gut spielen konnte. Sie schenkte allen ein strahlendes Lächeln, und
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