Die schlafende Stadt
würdig erweisen. Kein Wort wird über meine Lippen kommen, ehrwürdiger Ambrosius.“
„Gut.“
Ohne ein weiteres Wort wandte Ambrosius sich ab und schritt in steifer Haltung auf das Ausgangstor zu. Die beiden Schwarzkutten schlossen auf und folgten ihm gleichen Schrittes. Ihre dornbesetzten Knüppel wippten im Marschrhythmus.
Darius war beunruhigt. Entweder war dies eine Maßnahme, um ihn auf ihre Seite zu ziehen – oder eine Falle. Es fiel ihm schwer, sich nichts anmerken zu lassen. Beda war wie üblich derart in seine Arbeit vertieft, dass er womöglich gar nichts von Darius’ kurzer Abwesenheit gemerkt hatte.
Darius sah zu ihm hin. Eigenartig krank sah er aus. Darius bemerkte einige dunkle Flecken auf Bedas Wangen, die ihm neu schienen.
Er setzte sich wieder an seine Papiere und zwang sich eine Weile zum Arbeiten. Fast eine Stunde harrte er so aus, dann erhob er sich betont bedächtig und sagte zu Beda: „Ich gehe eine Runde durch die Stadt.“
Beda sah auf, nickte mit leichtem Lächeln, und räkelte sich in seinem Sessel. „Der unruhige Geist verlangt mal wieder nach Auslauf“, konstatierte er. „Nun denn: Mach er, dass er fortkommt!“ Beda liebte es, in altertümlichen Formulierungen zu reden. Neckisch machten seine Finger eine Bewegung, als verscheuche er eine Fliege. Darius bemühte sich, nicht grinsen zu müssen.
Darius scheute sich, gleich den Weg zu Uriel zu nehmen. Stattdessen schlug er genau die entgegengesetzte Richtung ein, und erklomm einige Treppen nach oben, weg vom Hafen, in Richtung der Burg. Wohlweislich wählte er einen respektablen Abstand, denn das dämonische Gebäude erschien ihm bedrohlicher als je zuvor. Langsam, sich selbst zu unauffälliger Bedächtigkeit zwingend, spazierte er auf die charakteristische Felsnase zu, die wie eine Art natürlicher Wehrturm aussah und tatsächlich ein kleinerer Gipfel war, von dem Darius vermutete, dass man nicht nur den Hafen, sondern bereits die Stadtbereiche hinter der Bergkuppe würde sehen können.
Schließlich hatte er die letzten Häuser, die sich noch an der steilen Feldwand anklammern konnten, hinter sich gelassen. Das letzte Stück würde ihn sogar höher bringen, als einige Teile des Schlosses, ausgenommen natürlich der hohe Hauptturm, der sich schier endlos in den Himmel reckte.
Darius merkte, dass ihn das Ersteigen mit einer eigenartigen Freude erfüllte. Er spürte dadurch eine körperliche Kraft, die ihm bislang nicht bewusst gewesen war.
Leider erwies sich die ihm zugewandte Seite als unzugänglich. Ratlos blickte er sich um. Dann versuchte er, um die Felsnase herumzuklettern. Einige Vorsprünge erwiesen sich als durchaus begehbar, wenngleich weitab jeder Bequemlichkeit, so dass Darius auch seine Hände zu Hilfe nehmen musste.
Die andere Seite war deutlich weniger steil. Darius konnte sich langsam, aber zuverlässig hinaufarbeiten und erreichte so nach vielen Klimmzügen die Spitze.
Ein seltener Anblick bot sich ihm hier. Der Aussichtspunkt erlaubte den Blick ins Hinterland. Unter ihm befanden sich zunächst, wie auf der Vorderseite an den felsigen Untergrund angebaut, zahlreiche Häuser, Gassen, Brücken und Türme. Es gab andere Felsmassive, ebenfalls bebaut, an den unzugänglichen Gipfeln kahl und finster. Dazwischen im Schatten liegende Täler und Schluchten, von einzelnen Laternen und Lichtern unterschiedlicher Größe bevölkert, die wie Stecknadelköpfe auf einem schwarzsamtenen Nadelkissen herausfunkelten. Weit hinten erhoben sich die gewaltigen Fabrikgebäude der Unterstadt, rauchende Schornsteine auf bizarren, verschachtelten Gebäuden, die sich wie lauernde Tiere auf dem Untergrund herumdrückten. Zahlreiche Rohrleitungen verließen die Haupttürme in alle Richtungen, stählerne Adern, klammernden Fingern gleich, die sich in die Felsen hineinwühlten und von denen sich ganze Stränge bis zur Burg hinaufwälzten. Schwach waren aus der Ferne die dumpfen Stöße der Pumpen zu vernehmen.
Darius stutzte. Kamen die Geräusche wirklich nur von den Fabriken? Der Wind, der hier oben deutlich stärker war als er es je zuvor gekannt hatte, mochte seine Wahrnehmung verfälschen, aber es war ihm, als erklänge in seiner unmittelbaren Nähe ein ähnliches Geräusch wie von dort drüben.
Vorsichtig stieg er wieder abwärts. Er blieb aber jetzt auf der dem Hinterland zugewandten Seite des Felsens, anstatt den gleichen Weg zurück zu nehmen. Leider wurde auch diese Seite bald so steil, dass ein Weiterkommen kaum möglich
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