Die schlafende Stadt
unserer Stadt gibt es uns gar nicht. Scheinbar regelt sich alles von selbst. Ohne, dass sie sich bedrängt fühlen, sind wir aber da und kümmern uns um alles – dezent und diskret.
Daher hoffe ich, dass Sie sich uns anschließen. Sie können sehen . Sie können denken. Sie sind wie geschaffen, eine verantwortungsvolle Position in unseren Reihen zu bekleiden.“
„Jetzt verstehe ich.“
Darius versuchte, sich zu sammeln. Er ahnte bereits, dass er, sollte er sich weigern, zu einer Gefahr für Harlan und den Orden werden würde. Was das bedeutete, konnte er sich denken. Plötzlich fühlte er eine unsichtbare Klammer um seinen Hals.
„Ich möchte, dass Sie noch mehr verstehen. Dies ist wichtig, damit Sie sich nicht gezwungen fühlen. Sie werden sehen, dass die Gemeinschaft in unserem Orden von Jalán eine sinnvolle und ehrenhafte Aufgabe ist.“
Er bedeutete Darius, ihm zu folgen. Er öffnete eine Tür neben dem großen Ylgar-Gobelin und geleitete Darius in einen kleineren Raum mit zwei ausladenden Sesseln. Ein großer Erker mit einem Triptychon von hohen Panoramafenstern zeigte einen phantastischen Ausblick auf die ganze Stadt und auf die Bucht. Der Sternenhimmel und der Vollmond zauberten ein unwirkliches Licht auf die Wellen des Meeres und auf die Dächer der Häuser und Paläste.
„Hier ist es beschaulicher.“ Harlan beobachtete seinen Gast aufmerksam.
„Es ist wunderschön, nicht?“
„Ja, das ist es.“
Darius war ebenso beeindruckt von diesem Ausblick als auch von der tiefen Regung, die Harlan ihm offenbarte.
Harlan blickte wie verträumt in die Ferne. „Dies ist unsere Stadt, unsere Welt, unser Schicksal“, flüsterte er. „Und unsere Aufgabe. Dafür lohnt es sich wahrhaftig, zu arbeiten, zu sein, oder auch zu vergehen!“
Er lud Darius ein, sich zu setzen.
„Jede Gesellschaft besteht aus Herrschenden und Beherrschten“, erklärte Harlan. Sein Gesicht schien jetzt wie verklärt.
„Das Volk braucht Sicherheit, Regelhaftigkeit und Ordnung. Dadurch geht alles seinen Gang, und die Stadt besteht, entwickelt sich und bringt Neues, Großes hervor. Wir stehen dafür ein, dass die Ordnung bestehen bleibt, die nötig ist.
Wollen Sie mir dabei helfen?“
Diesen Satz sagte er langsam und bedeutungsvoll.
„Sie reden von großen Dingen“, sagte Darius ausweichend.
„Verschonen Sie mich mit diesen Floskeln!“ sagte Harlan unerwartet scharf. „ich weiß, dass Sie Bedenken haben! Sagen Sie sie mir direkt und verschanzen Sie sich nicht hinter Belanglosigkeiten und Geschwätz! Dies ist Ihrer nicht würdig!“
Darius war betroffen. Dieser Mann war wahrhaftig wach und aufmerksam. Und offenbar ehrlich. Darius hoffte, dass er ehrlich genug sein würde. Die Szene im tiefen Inneren der Burg hatte sich unauslöschlich in seine Seele gebrannt.
„Ja, ich habe Bedenken“, sagte Darius.
„Sprechen Sie.“
„Die Ritter in ihren Kutten. Sie wirkten auf mich bedrohlich. Mit ihren Knüppeln und Beilen waren sie für mich wie Henker und Meuchler.“
Harlan starrte ihn schweigend an.
„Sie haben vollkommen recht“, sagte er dann.
„Ich schätze diese Vorgehensweise an sich ebenso wenig wie Sie. Sie ist brutal und grausam, und nicht immer zweckmäßig. Ich versichere Ihnen aber, dass alles auf Sie schlimmer wirkt, als es ist.
Sie selbst haben doch immer an sich beobachtet, wie schwerfällig und matt ihr Geist lange Zeit war. Dies ist für die Bürger dieser Stadt völlig normal. Keiner strebt nach Klarheit und Wachheit wie Sie und ich es tun. Sie können es nicht, aber sie wollen es auch nicht. Dies würde viel zuviel Eigenständigkeit und Verantwortung bedeuten. Sie sind wie die Kinder.
Jede Art von Aufrüttelung reißt sie jedoch aus ihrem ruhigen Fluss. Sie werden dann unruhig und unvernünftig. Dann sind sie erschüttert in ihrem Vertrauen, weil sie damit nicht umgehen können. Daher müssen wir jede Art von Sensation ausnahmslos eliminieren. Nur in Ruhe und Geborgenheit ist das Dasein gewahrt.
Manchmal erwachen Bürger wie aus einem Traum und entwickeln intensive Gefühle, meistens von Angst oder Wut. Sie tun dann Dinge, die ihnen und anderen schaden, ungezielt und kopflos, weil sie gar nicht wissen, was am sinnvollsten ist. In Wahrheit sind sie aber dann in einem Albtraum, aus dem wir sie erlösen müssen.
Wir haben aber nicht die Macht, sie zu töten. Das kann keiner hier. Das wollen wir auch nicht. Aber indem wir ihrem Körper mit drastischen Maßnahmen zu Leibe rücken, vergessen sie
Weitere Kostenlose Bücher