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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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augenblicklich den Wahn, indem sie sich befinden. Innerhalb von kurzer Zeit nämlich fügt sich alles wieder zusammen. Nichts erinnert mehr an die beigebrachten Wunden. Aber der Mensch ist wieder wie neu. Geläutert und erlöst kehrt er wieder zurück. Auch jener dicke Mann aus dem Tempel, von dem Sie sprachen ist längst wieder unter uns. Alle Qual, die Sie in seinem Gesicht sahen, ist vergessen.“
    „Sie meinen: Der Körper wird mit Beilen zerhackt, ohne dass derjenige etwas davon spürt?“ Darius glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.
    „Oh doch. Aber es sind keine Schmerzen im eigentlichen Sinn. Der Mensch erlebt seine eigene Zerstörung in bewusstem Zustand. Aber er stirbt nicht. Aber indem er sein eigenes Ende, seine Auflösung erlebt, und sich aber dann wieder vollständig regeneriert, erlebt er sich selbst als gestorben und wiedergeboren. Er kehrt erleichtert zu uns allen zurück und fügt sich dankbar den Gegebenheiten.“
    „Aber warum diese widerwärtige Grausamkeit?“
    „Im Laufe einer langen Zeit hat sich herausgestellt, dass geringere Maßnahmen nichts nützen. Nur extremes Erleben setzt die Prozesse in Gang, die wir brauchen. Wir sind gewissermaßen dazu gezwungen, es so zu machen.“
    Er sah Darius an. „Glauben Sie mir, wenn es eine sanftere Möglichkeit gäbe, wir würden sie sofort umsetzen und alles andere ersatzlos streichen.“
    Harlans Ausführungen entbehrten nicht einer gewissen Logik. Aber etwas in Darius wehrte sich.
    „Sie dürfen nicht Ihre eigenen Empfindungen als Maßstab nehmen“, fuhr Harlan fort. „Sie selbst wären für solche Maßnahmen völlig ungeeignet. Deshalb sitzen Sie ja auch mit mir hier in einem Sessel. Die Kraft des Wortes genügt bei Ihnen, damit Sie Dinge begreifen und umsetzen. Das geht bei den normalen Bürgern aber nicht. Sie alle würden nur verständnislos durch uns hindurchschauen und nichts aufnehmen, rein gar nichts. Sie müssen der Zerstörung ihres eigenen Selbst beiwohnen, um wirklich alles hinter sich lassen zu können.“
    Ein kurzer Blitz, ein vager Funke in Darius’ Geist blitzte auf, um nach und nach stärker zu werden. Harlan könnte die Wahrheit sagen. Eine andere Stimme in ihm sagte aber, dass dies nicht wahr sein durfte.
    „Ich erwarte nicht, dass Sie all dem, was ich Ihnen mitteile, sofort und unumwunden zustimmen. Wenn Sie es täten, wären Sie wie meine Soldaten im Hof.“
    Darius schwieg. Er sah auf die Meeresbucht und auf die nahenden Boote.
    „Was wäre meine Aufgabe?“, fragte er.
    „Die neuen und die alten Bürger sollen sich einfinden und ein Dasein haben, dem sie zustimmen. Wir haben Soldaten, wir haben Beamte. Alle bedürfen der Instruktion, der Lehre. Die Neuankömmlinge müssen eingeführt werden, ohne sie zu belasten. Wir brauchen den Kontakt mit dem Volk. Wir müssen über ihr Befinden Bescheid wissen, um uns darauf einstellen zu können. Und natürlich müssen wir die bekämpfen, die all dies zerstören wollen.
    Sie würden eingeweiht in unser System, unsere Lehre, unseren Glauben. Von dort werden wir die Aufgabe finden, die Ihnen am meisten entspricht. Sie bekommen Zugang zu den Schriften, den Gebäuden, den Archiven.“
    Darius spürte die letzten Worte wie einen Blitzschlag. Er würde ungehindert nach seiner Geliebten forschen können! Er würde die Macht haben, ihr nahe zu sein! Weder er noch sie würden ein grausames Schicksal fürchten müssen! Und womöglich ... wer weiß, was er innerhalb des ganzen Systems bewirken könnte!
    Harlan hatte die Veränderung in seinem Inneren vermutlich bemerkt. Seine Augen blicken nach wie vor aufmerksam, fast ein wenig lauernd. Dann sagte er mit warmem Klang in seiner Stimme: „Sie sollen nun Zeit haben, über alles zu schlafen. Ruhen Sie sich aus, machen Sie ihre üblichen Spaziergänge. Suchen Sie mich auf, wenn Sie weitere Informationen brauchen. Und kommen Sie, wenn Ihre Entscheidung gefallen ist, wie immer sie auch lauten möge.“
    Darius machte eine leichte Verbeugung. Harlan strahlte so viel Würde und Erhabenheit aus, dass es ihm nicht schwer fiel.
    „Ich fühle mich durch Ihr Angebot und Ihr Vertrauen überaus geehrt und werde Sie meine Antwort bald wissen lassen.“
    „Ich muss eine Bedingung stellen: Sie dürfen mit niemandem über das sprechen, was in diesen Räumen gesagt wurde. Sollten Sie es tun, muss ich Sie als Feind betrachten.“
    „Dies versteht sich von selbst. Ich werde schweigen.“
    Darius fühlte sich leicht, geradezu erhaben, als er die Treppen der

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