Die schlafende Stadt
auch einst hierzulande, aber das alte Wissen ging verloren, weil es einem rationaleren, scheinbar realistischeren Platz machen musste. Die Philosophen der Aufklärung wie Descartes brachten uns das kritische Denken, den berechtigten Zweifel. Dadurch aber setzten sie das rational Begreifbare an erste Stelle und verbannten das Intuitive, über den Verstand Hinausgehende in den Bereich des Aberglaubens und der Phantasterei. In Afrika, aber auch in Asien und bei den Ureinwohnern Amerikas leben die Menschen viel verbundener mit ihrer Familie und ihrer Sippe. Und mit ihren Toten. Diese Verbundenheit löst sich ja nicht auf, wenn ein Mensch stirbt. Für unser Unbewusstes gibt es keine Toten.“
Sie wandte sich wieder zu Berthold.
„Sie müssen dies nicht alles sofort und in vollem Umfang verstehen“, sagte sie. „Ich selbst habe zu dieser Einsicht auch lange Zeit gebraucht. Ich habe einen Teil meines Lebens in New York verbracht, herausgerissen aus allem, was mir vertraut war, und erst spät erkannte ich, dass ein tiefer Sinn darin lag. Ich hatte Angst, große Angst sogar. Jetzt bin ich der Meinung, dass New York eine wundervolle Stadt ist. Ich habe Dinge, Sichtweisen, Perspektiven kennengelernt, die zu Hause in Deutschland nicht möglich gewesen wären. Ich würde sofort dort leben wollen, wenn die Umstände es gestatteten. Das, was uns umgibt, wirkt auch auf unsere Seele. Nehmen sie dies einfach einmal als Anstoß. Und, falls es Ihnen hilft: Auch ich brauchte damals die Anregung durch andere, an die ich mich damals hilfesuchend wandte. Sie haben mir geholfen, auch wenn unsere Begegnung jeweils nur kurz war.
Lebt Ihr Großvater noch? Der lustige?“
„Er lebt noch. Es geht ihm sogar gut.“
„Dann fragen Sie ihn doch einmal, was er von seinem Vater noch weiß. Vertiefen Sie sich in das Thema. Ich glaube, dass wir dort den Schlüssel zu allem finden.“
Frau Goldblatt lächelte jetzt. Gütig sah sie aus, mit einem Male. Als ob ein Licht seine hellen Strahlen durch einen dunklen Wald schickte.
Berthold verstand, dass die Sitzung hiermit beendet war.
„Ich danke Ihnen“, sagte er und erhob sich.
„Auch ich habe zu danken.“ Frau Goldblatt erhob sich ebenfalls und ging zu ihrem Schreibtisch. Jede Bewegung von ihr war elegant und vornehm. Sie blätterte in ihrem Terminkalender.
Berthold wunderte sich wiederum. Wofür nur dankte sie ihm? Fast schüchtern trat er zu ihr und hörte ihre Terminvorschläge. Verstohlen sah er auf das düstere Bild an der Wand.
Kannte er diesen Ort?
War er nicht schon dort gewesen?
Der Gedanke war kurz und plötzlich. Sein Herz begann, wild zu schlagen. ‚Jetzt werde ich verrückt!’ sagte er sich.
„Denken Sie vor allem an eines“, sagte Frau Goldblatt, als habe sie seine Gedanken gelesen, „wenn Ihnen Gedanken kommen, die nicht dem entsprechen, was als ‚normal’ gilt, sind Sie deshalb nicht gleich verrückt.“
Frau Goldblatt überreichte ihm einen Zettel, auf dem sie Bertholds nächsten Termin notiert hatte. „Überlegen Sie besser ganz liebevoll, woher Gedanken und Gefühle kommen, anstatt sie sofort abzuwerten oder zu verwerfen. Ein guter Psychologe muss auch aufhören, zu bewerten. Er muss verstehen.“
Adolf HITLER
W ar es nun unübersehbar oder nur ein Gespenst seiner Befürchtungen? Sein Verderben oder sein Heil? Darius fühlte sich von solchen Zweifeln gepeinigt, dass jeder seiner Schritte über die schwarzen, erhabenen Steinstufen zum Burgeingang schwer fiel. Seine Erregung ließ ihn leicht zittern, seine Beine schlotterten, alles Gefühlsregungen, die ihm bisher völlig unbekannt gewesen waren. Bereits der Aufbruch, ja die ganze Schlafenszeit zuvor waren davon bestimmt gewesen, und mit dem ersten Herannahen der Nacht war er bereits wach gewesen und bereit, sich dem zu stellen, was da kommen möge. Ob dies auch klug war, wusste er nicht.
Am meisten hatte ihn beunruhigt, dass es ihm die ganzen letzten Tage nicht gelungen war, Uriel ausfindig zu machen. Die Tür in Valdemars Schlund war verschlossen gewesen. Somit bröckelte die letzte Stütze, von der er bisher sicher war, sie noch zu haben. Er sehnte sich nach der Zeit zurück, in der alles in gewohnten, wenn auch tauben Bahnen verlaufen war. Beda an seiner Seite, der väterliche und zugleich kumpelhafte Freund, der alles mit seinem leichten Lächeln hinnahm und doch für alles eine Lösung wusste.
Was nur war mit Uriel? Welcher Seite gehörte er an? Gab es diese „Bruderschaft“, überhaupt? Oder
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