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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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psychische Labilität, obgleich Berthold nie Anlass dazu gegeben hatte, dass man sich um ihn sorgen müsste. „Du hörst dich schlecht an, ist irgendwas?“ – „Da höre ich etwas Bedrücktes in deiner Stimme, kann das sein?“ – „Du hast doch was, oder?“
    Und selbst, wenn es so wäre!
    Berthold nahm sich das Recht, seinen Gesprächspartner selbst auszusuchen, wenn er etwas auf dem Herzen hatte. Robin war aber ohnehin nicht wirklich an Berthold Befindlichkeiten interessiert. All das war reiner Eröffnungsschwulst, getarnt als altruistisch, die widerwärtigste Art der Aggression, die Berthold kannte. Sehr bald pflegte Robin nämlich auf sein eigenes Thema umzuschwenken, was meistens irgendwelche medizinischen Erkenntnisse waren, die er gewonnen hatte und die natürlich stets über das Wissen eines normalen Oberarztes hinausging, oder aber er beklagte sich über irgendwelche Ignoranten, die seine Fähigkeiten nicht erkannten. Letzte Woche erst hatte er Berthold in eine lange Diskussion über Kunst und Können verstrickt, und darüber, warum ihm inzwischen klar sei, dass Marek Grabiansky als Künstler doch ein recht kleines Licht sei.
    Heute ging es um dumme Krankenpfleger, ein Thema, das Berthold zurzeit herzlich wenig interessierte. Robin war aber nicht zu bremsen. In seiner gewohnt gestelzten Art entwarf er das Bild einer Horde einfältiger, weißgekleideter Trolle, die grunzend die Gänge der Klinik verunsicherten und aus Tollpatschigkeit eine Gefahr für die Patienten darstellten, was er, Robin, in übermenschlichem Einsatz gerade noch verhindern konnte, ohne dass ihm dies auch nur im Entferntesten gedankt würde.
    Berthold war genervt. Er hatte Robins Aufdringlichkeit ohnehin schon satt, aber heute war es wirklich zuviel.
    „Ich frage mich, wie die Klinik bisher ohne dich ausgekommen ist“, unterbrach er Robin ironisch.
    Robin hatte kein Gespür für Humor. Unbeirrt setzte er seinen Sermon fort und deutete Bertholds Einwurf kurzerhand als Beipflichten. Berthold wurde direkter.
    „Darf ich dich mal unterbrechen, ja?“
    Ganz gegen seine Gewohnheit sprach er recht laut und bestimmt. Robin stoppte seinen Redeschwall kurz, und wollte gerade erneut ansetzen, doch wieder kam Berthold ihm zuvor.
    „Ich halte es für unrealistisch, dass alle Krankenpfleger dort Hornochsen sind. Ich glaube eher, dass du ein Problem damit hast, dich einzufügen. Wenn du dich dort auch nur andeutungsweise so benimmst wie bei mir jetzt, wundert mich nämlich gar nichts.“
    Robin schnappte nach Luft. „Hä? Mit was für einer seltsamen Intention sagst du mir sowas?“
    „Fast jeden Tag rufst du bei mir an, wissend, dass ich hier versuche zu arbeiten, und quatschst mich voll, ohne dich auch nur einen Deut um mich zu scheren. Jedesmal kommst du mit irgendeiner aufgesetzten Anteilnahme, und versuchst gleichzeitig, mir irgendwelche Defekte anzudichten. Heute störst du mich schon wieder. Ich winke schon mit einem Zaunpfahl nach dem anderen und du redest einfach weiter. Ich habe heute wirklich keinen Sinn für solche Rücksichtslosigkeiten. Und ich wette, das ist das, was andere an dir nervt. Du verträgst nur keine Kritik, das ist alles.“
    Jetzt war der größte Teil von allem heraus, was sich die ganze letzte Zeit in ihm angestaut hatte.
    Es folgte eine kurze, unangenehme Pause.
    „Du bist der letzte Hänger, weißt du das?“ Robin versuchte sich in extremster Coolness. Berthold konnte seine blasiert herabhängenden Augenlider förmlich hören.
    „Ach Gottchen, jetzt sind wir aber narzisstisch gekränkt! War das jetzt Majestätsbeleidigung?“
    Wieder Stille am anderen Ende der Leitung.
    „Du bist ja wohl das größte Arschloch, das ich je gesehen habe“, sagte Robin unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung, die er zeigen konnte. Er bekam das Zittern in seiner Stimme dennoch nicht ganz weg.
    „Dann gebe ich dir einen guten Rat: verschwende deine kostbare Zeit nicht mit Arschlöchern! Geh’ in die Chefarztlounge!“ antwortete Berthold beherrscht und legte den Hörer auf.
    Berthold fühlte einen gewissen Stolz. Man musste sich ja nicht alles bieten lassen, und Robins Mischung aus hündischer Verehrung und beifallsheischender Eitelkeit fand er ekelerregend. Er gestand sich ein, dass er froh war, endlich einen Anlass gehabt zu haben, Robin loszuwerden.
    Dennoch konnte er es kaum glauben, dass es wieder passiert war, wieder genauso wie immer. Die gleiche Szene hatte sich in unwesentlichen Modifikationen seit der Schulzeit

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