Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
Vom Netzwerk:
fast identisch wiederholt. Robin suchte Kontakt, zeigte seine Ehrerbietung, wurde aufdringlich und rücksichtslos, Berthold begann, sich abzugrenzen und Robin war tief gekränkt und wurde beleidigend und vulgär. Bis zum nächsten Mal.
    Befriedigt setzte er sich wieder an den Computer. Leider musste er feststellen, dass ihn das Gespräch doch mehr erregt hatte, als er sich hatte zugestehen wollen. Er hasste Streitereien wie diese.
    Nein es war unmöglich, sich jetzt auf den Roman zu konzentrieren. Berthold fluchte über Robin. Seine aggressive Energie hing wie eine stinkende Wolke in seinem Arbeitszimmer. Grimmig griff er nach der Weinflasche, entkorkte sie in der Küche und schenkte sich ein Glas ein. Ein schönes großes, bauchiges Burgunderglas, wie geschaffen für den guten Tropfen. Die dunkle, rubinrote Farbe des Weines und sein wunderbarer Duft stimmten Berthold wieder besser. Genießerisch nahm er einen Schluck.

    Lenis Schmerzen hatten endlich aufgehört. Wohl waren Gesicht, Busen, Bauch und Beine noch grünschwarz verfärbt, die Unterlippe und ihr linker Augenwinkel blutverkrustet, aber der wirklich große Schmerz war vorbei. Sie konnte aufstehen und einige Schritte gehen, musste aber doch rasch wieder in ihr Bett zurückkehren, weil sie schnell erschöpft war. Aber je besser es ihr ging, desto wildere Tänze vollführte ihr Geist, besonders in den Nächten, wenn ihre Träume sie in bizarrste Welten entführten, in dämonische Höllen und verwunschene Wälder, ödeste Felsgebirge und seelenlose Städte. Stets waren die Orte, die sie besuchte, sehr atmosphärisch und lieferten prachtvolle Kulissen für die Bilder, die sie malen würde, aber stets waren sie von derart beklemmender Echtheit, dass sie oft mehrere Minuten brauchte, um nach dem Erwachen wieder in die Jetztwelt zurückzukehren. Schon immer war sie sehr phantasievoll gewesen, und auch ihre Träume waren immer Quell ihrer Inspiration gewesen, so intensiv waren sie, daher war Leni nicht sonderlich beunruhigt. Im Gegenteil, fast war es so, als sei eine Gelassenheit in ihre Seele eingekehrt, die sie bisher so nicht kannte. Doch dies war nicht das Einzige, was sich unmerklich geändert hatte.
    Schwester Rosi brachte Leni das Essen. Sie betrachtete Leni als ihren ganz persönlichen Schützling, Bei Leni verwandelte sich sogar ihre furchterregende brachiale Stimme in ein sanftes Brummen. Je stärker ihre Beschützerinstinkte wurden, desto wütender wurde sie gleichzeitig auf denjenigen, die ihr das angetan hatte. Vermutlich ein ebenso gestörter Säufer wie ...
    „Haben Sie heute Besuch mitgebracht?“ fragte die junge Frau, nachdem Rosi das Tablett vor sie hingestellt hatte. Eine Weile beobachtete sie wohlwollend, wie Leni Appetit hatte und vorsichtig die Suppe schlürfte. Sie sollte nur vorsichtig sein und auf ihre Lippe achtgeben ...
    „Besuch?“ Rosi erinnerte sich jetzt an Lenis Frage und untersuchte sie nach ihrem Sinn. „Was meinen Sie?“
    „Ich dachte. Er könnte Ihr Vater sein.“
    „Wer?“ Rosi war irritiert.
    „Der Mann, der neben Ihnen steht.“
    Rosi fuhr herum. Es war nichts zu sehen.
    „Was zum Henker meinen Sie? Hier ist niemand.“
    „Aber ja! Neben Ihnen steht ein Mann in einem hellen Anzug. Er ist etwas kleiner als Sie, aber er hat die gleichen blauen Augen. Nur, dass er einen kleinen, weißen Kinnbart trägt und eine runde Brille.“
    Schwester Rosi verschlug es die Sprache.
    „Er versucht, sich bemerkbar zu machen“, sagte Leni. Sie wirkte überhaupt nicht verwirrt oder ängstlich. „Die Suppe tut gut.“
    Rosi starrte Leni an. Ihr Vater hatte weder einen Kinnbart, noch erinnerte sie sich an eine Brille. Sie hatte ihn seit über dreißig Jahren nicht gesehen. Vielleicht war er längst tot.
    „Er sagt, dass es ihm Leid tut. Und dass es richtig war, ihn hinauszuwerfen. Er sei damals eine Gefahr für alle gewesen. Er habe so viel getrunken, dass er nicht mehr er selbst war.“
    Leni lachte verhalten. „Er nennt sie: ‚mein großes Bärenkind’ .“
    Rosis Empörung erstarb auf einen Schlag. Sie wurde käseweiß. So hatte ihr Vater sie genannt. Es reichte in eine Zeit zurück, wo sie ihn noch geliebt hatte. So sehr, wie sie nur als Kind jemanden hatte lieben können. Bis die Kindheit allzu früh und für immer vorüber war.
    „Schweigen Sie!“ brachte sie mehr brüchig als scharf hervor. Fast meinte sie plötzlich selber, ihren Vater neben sich zu spüren. Mit Hilfe ihrer rationalen Arbeitsaufgabe verscheuchte sie das

Weitere Kostenlose Bücher