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Die schlafende Stadt

Die schlafende Stadt

Titel: Die schlafende Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steiner
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dem Weg zu seinem Großvater, der am Telefon ebenso erfreut wie überrascht gewesen war, von Bertholds Ansinnen zu hören, etwas über seine eigene Kindheit und über seinen frühverstorbenen Vater zu erfahren, der ja immerhin Bertholds Urgroßvater war, also weit, weit weg in einer Vergangenheit, die bereits zu unwirklich war, um noch wirklich wahr zu sein.
    Im Augenblick war er allerdings etwas abgelenkt. Die junge Frau, der er gegenüber saß, irritierte ihn. Er vermeinte, sich ganz unabsichtlich zu ihr gesetzt zu haben, denn genau hier war noch ein Platz frei gewesen, und er saß gerne am Fenster. Hübsch war sie nicht gerade; blonde, halblange Haare mit einem strengen Mittelscheitel, die akkurat bis zum Halsansatz reichten, eine blasse, etwas unreine, notdürftig überschminkte Haut und ebenso blasse, wässrige blaue Augen, die auffallend hervorstanden. Sie starrte in eine undefinierbare Ferne, und wirkte angestrengt bemüht, jeden Blick, jeden Kontakt mit dem Inneren des Zuges zu vermeiden. Gekleidet war sie wie eine College-Schülerin, puppenhaft, mit einem karierten Rock und einer bis zum Hals geschlossenen Rüschenbluse.
    Irgendetwas war mit ihr. Berthold scheute sich davor, sie direkt anzustarren, aber er entdeckte, dass ihr Spiegelbild deutlich im Zugfenster zu erkennen war, besonders hier im U-Bahntunnel. Er machte sich daran, das Gesicht zu studieren. Es wirkte nicht abstoßend, aber merkwürdig, als gebe es etwas Gespenstisches hinter dem unscheinbaren Äußeren.
    Die Frau wandte plötzlich ihr Gesicht in eine andere Richtung. Berthold ging auf, dass sie sein Spiegelbild ja genauso deutlich wahrnehmen konnte wie er ihres. Verstohlen sah er sie nochmals direkt an. Einen Augenblick fühlte er sich an eine frühere Schulkameradin erinnert, mit der er aber nie sonderlich viel zu tun gehabt hatte. Sie war es aber auch nicht, dies war eindeutig. Berthold wandte seinen Blick nach unten und betrachtete ihre Hände. Dabei fiel ihm auf, dass ihre Fingernägel recht kurz und teilweise abgekaut waren.
    Die Frau hatte sich inzwischen wieder zu einem Blick nach draußen entschieden, und so konnte Berthold es wieder vorsichtig wagen, ihr Spiegelbild anzusehen. Und endlich erkannte er, was es war.
    Sie hatte zwei völlig unterschiedliche Gesichtshälften. Ihr von ihm abgewandtes Auge, das er aber in der Fensterscheibe gut sehen konnte, war höher als das andere, und deutlich kleiner. Der Mundwinkel in der gleichen Gesichtshälfte schien verkürzt und etwas nach unten gezogen. Ein Schatten lag unter ihrem Wangenknochen, als sei die ganze Wange eingefallen. Der ganze Bereich wirkte fast etwas entstellt, es lag ein Ausdruck von Krankheit und Angst darin.
    Der Zug fuhr in die Station ein, das helle Licht ließ das Bild in der Scheibe verschwinden. Berthold sah sie nochmals direkt an und für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Ihr Gesicht schien vollkommen ebenmäßig. Nichts von alldem, was Berthold gerade glaubte gesehen zu haben, war im vollen Licht noch zu sehen. Der atmosphärische Ausdruck des Verstörten, Aussätzigen war aber noch da. Schnell entfloh sie wieder dem Kontakt, und erhob sich wie auch Berthold vom Sitz.
    Im Gedränge der herausströmenden Menschen war sie Bertholds Blick schnell entschwunden.

    Robin machte seine übliche Runde durch die Krankenzimmer. Er pflegte sich mit den meisten Patienten immer ein wenig zu unterhalten. Die unpersönliche Art, mit der die meisten sowohl von den Pflegern als auch den Ärzten abgefertigt wurden, hatte ihn schon von Anfang an empört. Er sah sich dazu berufen, ein wenig Menschlichkeit und Wärme in die Krankenzimmer zu bringen. Außerdem hatte er sich medizinisches Wissen angeeignet, das nach seiner Ansicht so manchem Oberarzt gut anstehen würde, und mit dem er den Patienten gegenüber keinesfalls geizte.
    Da lag sie, die alte Frau Jannings. Robin näherte sich ihr vorsichtig und lächelte sie an.
    „Wie geht es Ihnen, Frau Jannings?“ fragte er warm.
    Fachmännisch studierte er ihre Kurventafel am Fußende des Bettes.
    „Na, das sieht doch ganz ordentlich aus“, bemerkte er souverän.
    Die dürre alte Frau lächelte schwach. Mit ihrem bleichen, faltigen Gesicht und ihrem schütteren, schlohweißen Haar sah sie aus wie eine Mumie.
    Robin fühlte ihren Puls.
    „Noch etwas schwach, aber sehr schön regelmäßig“, bemerkte er. „Haben Sie ordentlich gegessen?“
    „Ein wenig“, sagte sie. Ihre bläulichen Lippen bewegten sich kaum.
    „Wie geht

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