Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Zeloten, doch darum lieben wir euch noch lange nicht. Der Aufstand des Barabbas vor einigen Jahren hat auch angesehene Pharisäer das Leben gekostet. Ihr seid wie … wie …«
Kephallion grinste. »Sprich es ruhig aus. In euren Augen sind wir gewöhnliche Knochenbrecher, nicht wahr?«
Der Pharisäer krallte die Hände noch fester um das Gebetbuch. Doch er schwieg.
»Oh ja«, raunte Kephallion. »So wie die Sadduzäer auf euch herabblicken, weil ihr die Stimme des gewöhnlichen Volkes seid, so blickt ihr auf uns herab, weil wir die Stimme der Freiheit sind.«
»Freiheit ist Willkür.«
»Ihr braucht unsere Willkür. Wir machen die Drecksarbeit, wühlen den Untergrund auf, um die Christiani aufzuspüren …«
»Wie die Wildschweine.«
»… während ihr euch in fromme Gewänder hüllt und im Sanhedrin den Hammer der Gerechtigkeit schwingt.«
»Wie kannst du es wagen! Wenn du nur gekommen bist, um uns zu beleidigen, kannst du gleich wieder gehen.«
Matthias wollte sich erheben, Kephallion hielt ihn sacht davon ab. Er hatte den Streit angefacht, um Matthias zu zeigen, dass die Zeloten nicht so dumm waren, wie die Pharisäer glaubten, und dass sie deshalb gleichberechtigte Partner waren.
»Ihr braucht uns jetzt mehr denn je«, sagte er leise, um die Schärfe aus dem Gespräch zu nehmen.
Matthias senkte die Augen. »Wieso das?«
Wieder grinste Kephallion. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass einer eurer herausragenden Prediger, Saulus mit Namen, zu den Christiani übergelaufen ist. Ein schwerer Schlag, nicht wahr?«
Matthias hielt die Augen gesenkt und ließ sich mit der Antwort einige Atemzüge lang Zeit. »Wir sind darüber empört«, kommentierte er den Verrat des Saulus diplomatisch.
»Empörung allein wird euch nicht weiterhelfen. Dieses Pack erweist sich als widerstandsfähiger, als wir dachten.«
»Sie werden öffentlich zur Schau gestellt und vom Volk beschimpft, mit empfindlichen Geldstrafen belegt und mit Ruten gezüchtigt. Bei Rückfall drohen wir sogar mit Gütereinziehung. Wir haben alles versucht.«
»Irrtum«, widersprach Kephallion.
Der Pharisäer ahnte, worauf sein Gast hinauswollte, und runzelte die Stirn. »Dazu brauchen wir den König.«
»Nicht, wenn wir Hand in Hand vorgehen. Läuft unsere Aktion erst einmal an, wird Agrippa es nicht wagen, sie zu stoppen.«
Matthias dachte nach. »Aber das Volk könnte …«
Kephallion lachte kurz auf. »Das Volk, Matthias, ist eine Hammelherde, die rennt, wohin der Hund sie treibt. In diesem Punkt sind Juden nicht anders als andere. Ich weiß das, du weißt das – denn wir sind die Hunde.«
Kephallion ließ einen Moment verstreichen, bevor er sich erhob und sagte: »Und jetzt, Matthias, lass uns beten.«
Salome beugte sich zu Timons Grab vor und grub mit den Fingern ein kleines Loch in den Boden. Die Erde war heiß und trocken. Immer wieder musste sie ihre Arbeit unterbrechen, um sich Staub aus den Augen zu reiben, und so dauerte es eine Weile, bis das Loch groß genug war. Sie setzte das Pflänzchen hinein, achtete darauf, dass die Wurzeln viel Platz hatten, und schob die Erde wieder in das Loch zurück. Aus der mitgebrachten Amphore goss sie Wasser um den Trieb und drückte die Erde danach fest. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk.
Das Zitrusbäumchen stammte aus den Hainen von Ashdod und war ein Nachkömmling jener Pflanzen, die dort zu der Zeit wuchsen, als sie Timon kennen gelernt hatte. Wieso war sie nicht früher auf den Gedanken gekommen, das Grab mit Zitrus zu schmücken? Er hatte den feinherben Duft der Pflanzen geliebt, und mit Ashdods Hainen verknüpften sie zahlreiche gemeinsame Erlebnisse. Dort hatte er ihre Wunden gepflegt, hatte sie schön genannt … Manche Erinnerungen an ihn verblassten mit den Jahren, aber es gab einige, die sie bis zu ihrer letzten Stunde in sich tragen würde, dessen war sie sich sicher.
War es trotzdem Verrat, wenn sie auch für einen anderen Mann zärtliche Gefühle empfand? Nicht zum ersten Mal stellte sie sich hier diese Frage, an diesem seltsamen Ort, der Timon gehörte und doch auch wieder nicht.
Die sterblichen Überreste ihres Geliebten lagen irgendwo auf dem Ölberg, wo man die Toten aus dem Gefängnis des Sanhedrin vor fast einer Dekade anonym bestattet hatte. Trotzdem war sie mit Gilead in den letzten Monaten oft hierher gekommen, denn sie brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, dass sein Vater an einem unbekannten Ort begraben lag. So konnte Gilead ihn wenigstens besuchen und mit ihm reden.
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