Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
gemacht.«
»Ja«, seufzte sie, »das passt zu ihm.«
Gilead unterbrach ihr Gespräch. »Bitte, darf ich einmal auf dem Rappen reiten?«
Aristobul nickte, und Salome konnte gar nicht so schnell widersprechen, wie ihr Sohn sich auf das Pferd schwang.
»Nicht weit«, rief sie hinter ihm her. »Und nicht so schnell … Ach, er hört sowieso nicht zu.«
»Keine Sorge«, sagte Aristobul schmunzelnd. »Mein Gaul ist ein braves Tier, überhaupt nicht ungestüm.« Er wurde etwas ernster und fügte hinzu: »Ich übrigens auch nicht. Da bin ich wohl ganz anders als dein Sohn und … und der Mann, der hier begraben liegt.«
Eine unangenehme Stille entstand zwischen ihnen, und Salome begriff, dass es für Aristobul besonders schwer sein musste, ausgerechnet hier, vor Timons Grab, Worte für sie zu finden. Trotzdem – oder gerade deshalb – war sie froh, jetzt hier zu stehen und nirgendwo anders. Hier fühlte sie sich sicher vor Aristobuls Gefühlen – und vor ihren eigenen.
Nachdem Gilead unversehrt zurückgekehrt war, spazierten sie zu dritt in die Stadt zurück. Gilead freute sich, weil er das Pferd am Zügel halten durfte, und Salome betätigte sich als höfliche Gastgeberin, indem sie Aristobul Jerusalem zeigte. »Hier siehst du den Siloa-Teich, er wird durch einen Tunnel mit Quellwasser gespeist und bildet das einzige nachfüllbare Wasserreservoir Jerusalems. Dort vorne siehst du den Berg Ophel, den ehemaligen Kern der heiligen Stadt. Er ist Jahrtausende alt. Dort gehen wir hinauf.«
»Er sieht steil aus.«
»Er ist steil«, bestätigte Gilead und schnitt eine Grimasse.
»Müde Knochen, die Herren? Kommt nicht in Frage. Ich will Aristobul den Vorhof des Tempels zeigen, und dazu müssen wir erst auf den Ophel hinauf. Marsch, marsch, faules Volk.«
Auf dem weiteren Weg ging Salome zielstrebig voraus, legte eine gewisse Distanz zwischen sich und die beiden Männer und beobachtete, wie die beiden miteinander zurechtkamen. Aristobul kehrte mühsam all sein Wissen über Pferde und Pferderennen hervor und erzählte von der Reiterkohorte, die noch von seinem Vater aufgestellt worden war und seither als bewegliche Eingreiftruppe bei der Grenzverteidigung Armeniens diente. Gilead war derart begeistert, dass er unbedingt einmal in Aristobuls Heimat wollte.
»Geht das, Mutter?«
»Wir werden sehen«, antwortete sie vorsichtig.
»Oh bitte.«
Aristobul sah zuerst Salome an, dann den Jungen. »Deine Mutter wird am besten wissen, wann der richtige Zeitpunkt für einen Besuch gekommen ist.«
Salome verglich, ohne es zu wollen, Timon und Aristobul miteinander. Wie verschieden sie waren! Timon war klein, schlank und agil gewesen, ein beherzter Draufgänger, dessen Körper von hundert kleinen Narben übersät war, die er sich bei Kämpfen, Rennen und Unfällen geholt hatte. Er hatte Salome bei ihrem ersten Treffen verteidigt und bis zu ihrer letzten Begegnung nicht damit aufgehört. Er war kritisch und voller Ansprüche, doch wenn sie ihn brauchte, war er bedingungslos für sie da gewesen.
Aristobul, groß und breitschultrig, strahlte eine große Ruhe aus, gleichgültig, ob er ging, saß oder sprach. Seine Augen streiften nicht ruhelos umher wie einst Timons, und seine Gedanken schienen in mächtigen, gelassenen Strömen zu fließen. Er wirkte stets konzentriert, aber nie verbissen. Nur zwei Dinge hatte er mit Timon gemeinsam: die Zärtlichkeit in den Augen und den Mut, jene Eigenschaften, die sie an Timon am meisten geliebt hatte.
Sie waren in den Gassen des Ophel angekommen und hörten aufgeregte Stimmen.
»Was ist das?«, fragte Aristobul und schloss unauffällig die Faust um den Schwertknauf.
»Keine Sorge«, erklärte sie unbeeindruckt. »Wir nähern uns dem Tempel.«
»Und?«
»Es gibt hier ein Sprichwort: Je näher beim Tempel, umso erhitzter die Gemüter. Ein Streit wahrscheinlich oder ein …«
In diesem Moment bog sie um eine Ecke – und ein blutender Mann stolperte ihr in die Arme. Sie schrie auf und schreckte zurück. Dem Mann fehlte ein Auge, und er klebte von Schmutz und Schweiß.
»Hilfe«, stöhnte er. »Hilf mir.«
Zu dritt halfen sie ihm wieder auf die Beine, aber noch bevor sie fragen konnten, was ihm widerfahren sei, stürzte eine Meute von Männern herbei. Ein Steinregen prasselte auf sie nieder. Gilead wurde am Kopf getroffen. Das Pferd scheute. Salome beschützte ihren Sohn, und Aristobul packte sie beide und drängte sie an eine Hauswand. Er wollte auch dem verletzten Mann helfen, doch die
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