Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
verdreht, nun verdrehst du bewusst die Worte des Königs.«
Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.
»Du bist schuld an seinem Tod«, rief sie.
Er erschrak und erbleichte, was selten passierte. Salomes Beschuldigung betraf die Tatsache, dass er Agrippa zur Christenverfolgung und zu blutigen Spielen gedrängt und damit eine zu schwere Schuld auf sich geladen hatte. Was jedoch, wenn man plötzlich auf die Idee kam, dass er noch viel konkreter mit seinem Tod zu tun haben könnte. Darum gab er lieber klein bei und schwieg, obwohl es ihm schwerfiel, vor Salome zurückzustecken.
Agrippinos nickte Salome dankbar zu. Sie war ihm in diesen Jahren fast eine Mutter geworden, und so fiel es ihm leicht, die Bitte seines Vaters zu befolgen. Er ging sogar noch weiter.
Agrippinos wandte sich an die Bürger im Sterbezimmer. »Trage es hinaus in die Welt, mein Volk, dass der König, mein Vater, tot ist, und dass seine letzten Gedanken mir gehörten sowie seiner Nichte Salome. Uns gemeinsam hat er die Sorge um das Heilige Land und seine Menschen aufgetragen. Nach unserem Willen sollen alle Verfolgungen ein Ende haben. Friede soll unser Land durchdringen, und jeder Gegner des Friedens ist unser Feind. Hört mich, ich bin euer König Agrippinos. Und an meiner Seite steht die Königin Salome.«
Das war eine Überraschung, auch für Salome. Schon als Kind hatte sie sich gewünscht, Königin von Judäa zu sein, und später hatte sie manches dafür getan. Dass es nie dazu gekommen war, hatte sie längst akzeptiert. Heute Morgen noch war sie so etwas wie eine Verbannte gewesen, und nun sah sie an der Seite eines kaum mündigen Knaben einen Traum verwirklicht, der schon Vergangenheit geworden schien. Agrippinos brauchte sie, so viel stand fest. Der Junge spürte, dass Kephallion und die Pharisäer ihm gefährlich werden konnten, dafür war sein Vater ein Beispiel gewesen. Aber er ging mit dieser verblüffenden Entscheidung auch ein Risiko ein.
Wie würde das Volk reagieren? Atemzüge lang schwankte die Stimmung. Die Bürger wisperten miteinander. Salomes berüchtigter Tanz, ihr Prozess wegen Ehebruchs, ihre bisweilen den Traditionen zuwider laufende Gesinnung – konnte das Volk mit einer solchen Königin leben? Hier im Saal waren nur wenige Bürger versammelt, doch wenn sie Salome akzeptierten, konnte der Funke leichter auf Caesarea überspringen und von dort auf andere Städte.
Aus dem Zischeln wurde ein Raunen. Schließlich rief ein Einzelner: »Es lebe König Agrippinos.« Und dann, einen gespannten Moment lang später: »Es lebe Königin Salome.«
Nun stimmten alle anderen ein. »Es lebe König Agrippinos. Es lebe Königin Salome.« Dreimal noch wiederholten sie es.
Salome schloss die Augen und lächelte.
NEUNTER TEIL
Finsternis bedeckt die Erde
29
Aus den meisten Städten Judäas trafen schon nach wenigen Tagen Huldigungsschreiben in Caesarea ein, was darauf hindeutete, dass Salome als Königin akzeptiert wurde. Allerdings erwähnten die meisten Briefe sie lediglich in der Grußformel, während man sich an Agrippinos mit konkreten Bitten wandte. Die Botschaft dahinter war kaum verschleiert: Agrippinos verkörperte für die Menschen die Macht, sie nur den Schmuck der Macht. Salome traf das nicht. Sie war von ihrem Volk nichts anderes gewöhnt und stellte sich darauf ein, wie in den ersten Monaten von Agrippas Herrschaft, im Hintergrund zu agieren. Der Unterschied war allerdings, dass sie nun den Reif der Könige trug.
Glücklicherweise war Agrippinos ein ganz anderer Mensch als sein Vater. Er musste nicht erst von Reformen überzeugt werden, und gleich in den ersten Tagen nach seines Vaters Tod sprach er von sich aus die Überarbeitung von Rechtsvorschriften an. Er begegnete Salome voller Freundlichkeit und Respekt, aber er zeigte sich auch seiner neuen Rolle gewachsen und trat für einen Fünfzehnjährigen selbstbewusst und würdevoll auf. Er war jetzt schon ein vollwertiger König. Trotzdem verwandelte er sich, kaum dass er mit Salome und Gilead allein war, wieder in den sympathischen und zurückhaltenden Knaben, der sich bei Spielen von seinem agileren Freund neidlos besiegen lassen konnte.
»So einen König bekommt man nicht alle Tage«, sagte Salome zu ihrem Sohn. »Ich hoffe, auch die Bewohner Jerusalems verstehen das.«
Das taten sie. Jerusalem war die letzte große Stadt Judäas, die auf den plötzlichen Thronwechsel reagierte. Im Sanhedrin wurde wieder einmal heftig gestritten. Den Pharisäern widerstrebte es,
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