Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
gelernt, das Buch Josua und das Buch Rut sowie die Schriften des Propheten Jesaja und einige Psalmen. Mittlerweile schwirrte ihm der Kopf, obwohl er sagte, dass er nichts erfahren habe, das ihm irgendwie nützlich vorkäme.
»Das in euren Schriften am häufigsten behandelte Thema«, hatte er gesagt, »heißt Gewalt. Zorn, Sühne, zerschmetterte Städte, verkohlte Schlachtfelder, misshandelte Menschen, Weltgericht, Strafgericht, Rachegericht … Euer Gott ist unentwegt damit beschäftigt, euch für irgendetwas zu strafen. Mal passt es ihm nicht, dass ihr feiert, dann wieder, dass ihr jammert, mal nimmt er es euch übel, dass ihr ihn um Hilfe ersucht, dann wieder, dass ihr nicht genug betet. Was mich vor allem an ihm stört, ist seine Gewohnheit, die blutige Niedermetzelung eines jeden zu verlangen, der ihm nicht schmeichelt. Einmal war er sogar zornig, weil die Bewohner Jerusalems nachts auf den Dächern gefeiert haben. Kann er bei dem Lärm sonst nicht schlafen, oder was? Kein Wunder, dass ihr ein ganzes Leben des Studiums braucht, um ihn zu verstehen.«
»Also haben dir meine Erläuterungen nicht geholfen?«, hatte sie ein wenig enttäuscht gefragt, denn sie wollte sich natürlich irgendwie für die vielen Lektionen in Mathematik, Rhetorik und Naturwissenschaft bei ihm revanchieren. Timon hatte sie es zu verdanken, dass die Sterne nun wunderbare Namen trugen, dass die Küsten des mare nostrum plötzlich voller lebendiger Völker waren und dass sie zum ersten Mal der Schönheit von Dichtungen begegnet war. Timon malte für sie zum besseren Verständnis des griechischen Theaters Szenen aus alten Dramen, berichtete von den Abenteuern des Odysseus und versuchte sich an Gesängen – was allerdings eher komisch als informativ gewesen war. Die Nachmittage mit ihm waren ausgefüllt mit Lachen und Denken, und Salome genoss jede einzelne Stunde. Doch sie wollte das Glück nicht einfach auskosten, sondern teilen. Sie wollte Timon auch etwas davon geben, denn er wirkte nicht selten traurig oder angespannt. Aber sie stellte fest, dass ihr eigenes Wissen über Gebote, Verbote und himmlische Strafen und Mahnungen spröde war im Vergleich zu den Wundern, die er für sie bereithielt.
Seine Gefühle allerdings verbarg er hinter dieser Mauer aus Wissen, hinter jenen korinthischen Säulen, blauen Sternen und lyrischen Dichtungen, über die er stundenlang erzählte. Er konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen Kephallion antreten und würde, um sie zu retten, vermutlich auch gegen dieses scheußliche Monster aus der griechischen Mythologie kämpfen, die Hydra; über sich selbst erzählte er so gut wie nichts. Er blieb rätselhaft.
»Doch, irgendwie haben deine Erklärungen mir geholfen«, räumte er zögernd ein. »Zum einen verstehe ich euer Volk etwas besser. Und zum anderen«, fügte er grinsend hinzu, »kann mir nach diesen komplexen religiösen Büchern keine statische Berechnung und keine mathematische Formel mehr Angst einjagen. Was ist schon der Bau eines Turms gegen achtundvierzig Bücher voll mit einem schlecht gelaunten Gott?«
Sie lächelte ihn an, streichelte seine Wange, strich ihm eine Strähne aus der Stirn, fasste schließlich seinen Arm an der Stelle, wo sie ihn zum ersten Mal ergriffen hatte, und blickte Timon unmissverständlich an.
Er senkte den Kopf und rang um Worte. »Ich … ich bin gerne hier«, gestand er in jenem Augenblick. »Deinetwegen, Salome.«
Der Knall der Rute riss Salome unsanft aus ihren Erinnerungen und beendete ein weiteres Mal den Disput der Streithähne.
Zacharias fasste sich wieder an die Brust, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss mit matter Stimme den Unterricht.
»Zum Strand?«, flüsterte Timon ihr zu.
»Zum Strand«, bestätigte sie ebenso leise.
Kephallion blieb zurück und sah ihnen nach. Er wartete, bis alle außer Zacharias gegangen waren. Dieser beachtete ihn absichtlich nicht, sondern räumte Bücher, Schriften und die kleinen Wachstafeln, die die Schüler für Notizen benutzten, ohne Hast unter sein Pult. Kephallion sah sich die künstliche Geschäftigkeit des Rabbiners eine Weile an, dann stand er auf und trat zu ihm.
»Wieso duldest du den unbeschnittenen, gottlosen Griechen noch länger in unseren heiligen Räumen?«
Zacharias ließ sich nicht unterbrechen. Ohne aufzusehen, sagte er: »Ach weißt du, Kephallion, ich bin zu müde, um dir zum zehnten Mal zu erklären, was Gastfreundschaft für einen Juden bedeutet – oder zumindest bedeuten
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