Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
sollte. Du würdest es doch nicht verstehen. Außerdem sind diese Räume nicht heilig. Dies hier ist ein Schulzimmer in einem Palast und nicht das Innerste des Tempels, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.«
»Der gottlose Grieche missbraucht deine Gastfreundschaft.«
Zacharias räumte weiter auf. »Du warst von Anfang an gegen ihn, nicht, weil du gute Argumente hast. Nein, du siehst nur den Nichtjuden in ihm. Er könnte der vollkommenste Mensch der Welt sein, ausgestattet mit allen Tugenden, er bliebe für dich immer nur ein Unbeschnittener. Du wärst nie in der Lage, auch nur irgendetwas anderes in ihm zu sehen.«
Kephallion widersprach nicht. Zacharias konnte anderer Leute Motive messerscharf zerlegen und ergründen und ihnen anschließend den Spiegel der niedrigen Gesinnung vorhalten. Er konnte jede Handlung, die man beging, und jede Meinung, die man angenommen hatte, ihrer sachlichen Begründung entkleiden und als nackten Affekt hinstellen, als tierische Emotion. Doch bei niemandem wandte Zacharias diese Taktik so häufig an wie bei ihm, und bei keinem empfand der Alte dabei so viel Lust. Das Schlimme war, dass Zacharias meistens Recht hatte, so auch jetzt.
Kephallion schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Also gut, lassen wir den Griechen beiseite, denn er ist ungläubig und unterliegt daher nicht unseren Gesetzen. Mit Salome ist das anders.«
Zacharias lachte verächtlich vor sich hin. »Nichts, was du sagst, kann mich gegen sie einnehmen. Sie ist klüger als du, fleißiger und wendiger, und das stört dich. Ich nehme dir nicht übel, dass du gegen sie bist – das wäre ich auch, wenn ich so ein chamor wäre wie du. Doch tue mir den Gefallen und spinne keine hinterhältigen Ränke, sondern tritt offen gegen sie an.«
»Wie du willst«, sagte Kephallion. »So klage ich Salome ganz offen an, eine Liebschaft mit dem Griechen zu haben. Ich habe die beiden zusammen gesehen, am Strand, wo sie beieinander lagen.«
Zacharias ließ sofort alles stehen und liegen. »Was sagst du da?«, rief er. »Das ist … das ist eine sehr ernste Beschuldigung, Kephallion. Bist du dir sicher? Oder lügst du, um ihr zu schaden?«
Kephallion nahm eines der siddurot , der Gebetbücher, und presste es auf sein Herz. Empört rief er: »Beim Namen des unaussprechlichen Gottes, ich schwöre, die Wahrheit zu sagen.« Er trat so nahe an Zacharias heran, dass er seinen Atem spüren konnte, und blickte ihm fest in die Augen: »Sie hat eine Liebschaft mit Timon. Ist dir nicht aufgefallen, dass sie sich neuerdings anders anzieht als früher, dass sie Farbe auf die Lippen aufträgt und Stecknadeln für die Haare benutzt? Sie ist zur Hure geworden, wie ihre Mutter, wie so viele Mütter. Das kannst du nicht dulden. Du weißt doch am besten, was eine verbotene Liebschaft anrichten kann, nicht wahr? Noch dazu mit einem Ungläubigen.«
All die Jahre war Zacharias unverwundbar für Kephallion geblieben. Dieser Mann hatte alles gegen ihn ausgespielt, die größere Bildung, die intellektuelle Erhabenheit und die Stellung als Rabbiner . Kephallion konnte die Demütigungen nicht mehr zählen, denen er, seit er denken konnte, ausgesetzt war. Er war dumm genannt worden, rüpelhaft, fett, brutal, charakterschwach, begriffsstutzig, einfältig, schwerfällig … Tausendmal hatte Zacharias ihn einen chamor geschimpft, jeden einzelnen Tag seines Lebens. Es hatte lange gedauert, viele herbe, verwirrende Jahre, bis er erkannt hatte, wieso er verabscheut wurde. Zunächst hatte er einfach geglaubt, dass sein Vater von Natur aus abweisend und kalt war und auf die Liebe seiner Familie keinen Wert legte. Seine Eltern sprachen kaum miteinander, und wenn, dann nur mit einem zynischen Unterton. Sie konnten nicht über die einfachsten Dinge reden – gibst du mir bitte deinen Teller, wann kommst du zurück, lösche nachher die Kerzen, bevor du ins Bett gehst -, ohne wie Feinde miteinander zu sprechen. Seine Mutter ging zärtlich mit ihm um, daher wandte er sich immer mehr ihr zu und redete mit Zacharias so wenig wie möglich. Als Folge davon behandelte Zacharias ihn umso verächtlicher. »Du bist das Kind deiner Mutter«, sagte er oft.
Und so war es auch. Eines Tages, als seine Eltern sich allein glaubten, hörte er heimlich ein Gespräch. Sie waren nicht laut, sie schrien nie miteinander. Ihre Feindschaft war nicht leidenschaftlich, sie war eisig. »Du wirst nicht gehen«, sagte Zacharias. »Du kannst es nicht, denn ohne Erlaubnis des Ehemannes wird
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