Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
geritten, was das Zeug hielt. Manchmal hatte er zwei Runden um die gesamte Stadtmauer Jerusalems gedreht, bevor er sich und dem Pferd Ruhe gönnte. Und vor Jerusalem, in Rom, kurz nach der Ermordung seines Vaters, hatte er im gymnasium mit Gleichaltrigen gerungen, wieder und wieder, fast einen ganzen Tag lang, wobei es ihm völlig egal gewesen war, ob er gewann oder verlor. Nur die Entkräftung zählte. Mit seinem Körper ermatteten auch seine Gefühle, und in diesen Minuten konnte er am klarsten denken, sich ganz auf seinen Willen konzentrieren und alle störenden Umstände vergessen.
Schwer atmend blickte er zurück zur Küste, die er weit hinter sich gelassen hatte. Salome war kaum noch zu sehen. Von hier aus betrachtet war sie kein Mädchen mehr, das auf ihn wartete, nicht einmal ein Mensch, sondern nur noch ein ferner Punkt.
Am ersten Tag, als er mit ihr ins gyneikon spaziert war, hatte er natürlich sofort gemerkt, was sie von ihm hielt. Er kannte die äußeren Anzeichen von Schwärmerei noch aus den Tagen im Palatinischen Palast. Dort war er immer nur auf zwei Sorten von Mädchen getroffen: jene, die ihn be lächelten, weil er einen halben Kopf kleiner als gleichaltrige Jungen war, und jene, die ihn an lächelten, weil sein Gesicht ihnen gefiel. Diesen feinen Unterschied des Lächelns erkannte er sofort; er bestand aus einer winzigen Biegung der Mundwinkel, aus einem Millimeter, der das Urteil über ihn fällte. Salomes Lächeln war immer ehrlich. Sie mochte ihn, vielleicht sogar sehr, ja, wahrscheinlich sehr.
Während jener ersten Stunde mit ihr hatte er sie überhaupt nicht als Mädchen wahrgenommen, schon gar nicht als junge Frau. Sie war ein wissbegieriges Ding, das ihm gerade recht kam, weil er Informationen brauchte und sie ihm helfen konnte. Er dachte nicht schlecht über sie, sondern er dachte überhaupt nicht an sie. Ihr Aussehen, ihr Husten und ihre Probleme mit den jüdischen Sitten interessierten ihn damals ebenso wenig wie ihre Neugier und Schwärmerei. Das alles war für ihn nur insofern von Bedeutung, wie es ihm nutzen konnte, schneller an sein Ziel zu kommen.
Dann war sie ein paar Tage verschwunden, weil eine dämliche Sitte bestimmte, dass sie unrein war, und in diesen Tagen merkte er, wie abhängig er von Salomes Kenntnissen über Akme und ihrer Stellung am Hof war. Türen und Lippen blieben ihm verschlossen, denn er war ein ungläubiger Fremder, und außer ein wenig Klatsch unter Sklaven und unnütze Hinweise von Zacharias erfuhr er nichts. Er suchte immer noch den Beweis, dass Akme hinter dem Mord an seinem Vater stand.
Dann die Schlägerei: Er konnte Salome vor Kephallions wütendem Angriff retten. Natürlich hätte er ihr ohnehin geholfen, denn nichts fand er widerwärtiger als Jungen, die Mädchen schlugen, überhaupt Starke, die Schwache demütigten. Dass er auf diese Weise auch noch Salomes Dankbarkeit gewinnen konnte, war ein Glücksfall.
Doch im Hain geschah etwas Seltsames. Er nannte Salome indirekt schön – Recht auf Schönheit, hatte er sich so ausgedrückt? -, anfangs nur, um noch mehr ihres Vertrauens zu gewinnen, doch plötzlich stellte er fest, dass er sie tatsächlich schön fand. Nicht einfach hübsch, nein, das war sie nicht einmal. Hübsche Mädchen kannte er aus Rom und Jerusalem, hübsche Mädchen sahen anders aus. Salome dagegen hatte etwas an sich … Waren es ihre schwarzen Augen, waren es die leicht hervorstehenden Wangenknochen, oder war es ihr Mut? Es traf ihn wie ein Blitz: Er fand Salome einzigartig. Er war fasziniert von ihr und wollte mit ihr zusammen sein; nicht weil sie die Großnichte Akmes, sondern weil sie eine junge Frau war.
Von diesem Moment an bis heute vermischten sich seine Gefühle für sie zunehmend mit dem Plan, den er nach wie vor auszuführen gedachte. Beides vertrug sich nicht miteinander. Er konnte Salome nicht gleichzeitig lieben und ausnutzen, nicht begehren und gebrauchen.
Er würde aufhören müssen, sie zu lieben – oder er müsste ihr die Wahrheit sagen und seinen Plan fallen lassen. Er musste sich entscheiden. Jetzt.
Salome, der Punkt in der Ferne, winkte ihm vom Strand aus zu. Er winkte zurück. Die Strömung hatte ihn noch weiter hinaus aufs Meer getrieben, und er war erschöpft. Nur langsam kam er gegen den Sog an, der ihn immer wieder hinausziehen wollte. Er konnte nicht mehr kraulen, seine Arme hatten die Kraft dazu nicht mehr. Mühsam teilte er mit den Handflächen das Wasser, und beinahe mit jedem Zug stiegen andere
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