Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Frisur und den Schmuck, die ich durch deine Hilfe weiterhin tragen kann. Kephallion lässt mich seither in Ruhe. Auch weiß ich so viel mehr als noch vor einigen Wochen, ich habe durch dich eine ganz andere Sicht auf die Welt, und sollte ich je die Macht erhalten, die ich mir erträume, dann will ich sie für die Menschen einsetzen. Ich werde Schulen bauen, die Spitzel abschaffen … Keiner in Judäa soll mehr Angst haben. Du hast mir die Augen geöffnet. Aber da ist – noch mehr. Wenn du bei mir bist, fühle ich mich wohl. Ich habe dann das Gefühl, mit dir zusammen alles schaffen zu können. So vieles fällt mir leichter, seit wir uns kennen. Da ist plötzlich ein Mut …«
»Den hast du immer schon besessen, Salome.«
»Vielleicht. Mein Mut war aber unbeständig, wechselhaft, und jetzt ist eine gleichmäßige Kraft daraus geworden. Alles ist viel leichter geworden, ich brauche nur daran denken, dass du und ich … Dass wir uns …« Salomes Stimme erstarb. Sie wusste nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Doch Timon würde verstehen, was sie mit all dem sagen wollte, und nun war es an ihm, etwas darauf zu erwidern. Sie hatte weit mehr gesagt, als das bei unverheirateten Mädchen ihres Alters üblich war, hatte nicht nur einen ungewöhnlich persönlichen Dank ausgesprochen, sondern auch ihre Gefühle vor Timon ausgebreitet. Weiter wollte sie jetzt nicht gehen. Wenn er etwas für sie empfand, sollte er es aussprechen und sich auch in ihre Hand begeben.
»Bei mir ist es umgekehrt«, sagte er und korrigierte sich sofort. »Du hast von deinem Mut gesprochen, von der Beständigkeit einer neuen Kraft – bei mir ist es anders herum. Seit ich dich kenne, fange ich an zu zweifeln. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das, was mir bisher das Wichtigste war …«
Von dem Hügel, auf dem der Palast stand, dröhnte es dreimal laut über ganz Ashdod. Salome packte vor Freude und Überraschung Timons Arm.
»Die Hörner«, rief sie. »Das Begrüßungssignal. Die Tetrarchin ist angekommen, meine Großtante ist da. Endlich.«
Timon sprang auf. »Endlich«, wiederholte er.
Salome ließ sich von ihm auf die Beine helfen. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich habe dich unterbrochen. Bitte, sprich weiter. Ich warte schon eine Weile darauf, weißt du?«
Er sah ihr tief in die Augen. »Das läuft uns nicht weg, Salome.«
»Heißt das, du wirst hier bleiben?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Er atmete tief durch und sah zum Palast. »Ja, ich werde Ashdod wohl nicht mehr verlassen.«
Salome strahlte vor Glück. Sie nahm Timons Hand und drückte sie. »Dann komm. Ich werde dich der Tetrarchin vorstellen. Du kannst gleich selbst sehen, wie nett sie ist.«
7
Das Zeremoniell am kleinen Hof von Ashdod war ausgeklügelt wie in einem Königspalast. Die Tetrarchin hatte von Anfang an eine komplizierte Hierarchie festgelegt, die strikt eingehalten werden musste. Für Feste, für den Empfang von Besuchern, für Ausflüge, Mahlzeiten, Mußestunden, Spiele und allerlei mehr gab es Regelungen, wer wann was zu tun hatte und vor allem, wie. Fast jeder erwachsene männliche Verwandte hatte ein zeremonielles Amt auszufüllen, bekam einen hübsch klingenden Titel und ein dazu passendes Gewand. Einer überwachte die Einhaltung der komplizierten kashrut , der mehr als fünfzig Speisevorschriften, die zum Beispiel die Zubereitung von Rindern, Ziegen, Schafen und Antilopen erlaubte – solange keine Milch dazu verwendet wurde -, jene von Schweinen, Eseln und Kamelen hingegen generell untersagte. Ebenfalls verboten waren Aale und Rochen, zugelassen waren alle Schuppenfische. Manche Vogelarten waren auf dem Teller gestattet, andere bei Strafe verpönt. Auch Insekten waren untersagt, mit Ausnahme von vier speziellen Heuschreckenarten, die wiederum als Delikatesse angesehen wurden. Andere Ämter waren beispielsweise das des Kämmerers, des Vorkosters und des Hofaufsehers. Die herodianische Familie war in Ashdod zu einem Reigen dienender Gehilfen und Knechte geworden, fühlte sich jedoch wohl dabei.
Alle hatten sich vor dem gyneikon versammelt und warteten stehend darauf, dass die Tür sich öffnete und sie nacheinander hereingerufen wurden, um ihre Freude darüber auszudrücken, dass die Tetrarchin wohlbehalten in das Fürstentum zurückgekehrt war.
Doch es tat sich nichts. Allerdings weilte Zacharias seit geraumer Zeit im gyneikon . Als Ältester der männlichen Verwandten war es seine Aufgabe, die Fürstin über alle relevanten Vorkommnisse zu
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