Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Gefühle in ihm hoch, sah er andere Bilder vor sich: der letzte Blick seines Vaters, Archelaos’ Feigheit, die Narbe an seinem Bauch, der Mörder, die gehassten Jahre in Jerusalem, und dazwischen Salome, deren Gestalt immer wieder zwischen den auf und ab wogenden Wellen auftauchte. Liebe, Hass, Trauer, Zorn und der Wunsch nach Rache wechselten sich mit jedem der hastigen Atemzüge ab.
Als er endlich wieder Boden unter den Füßen verspürte, konnte er nur noch auf allen vieren an den Strand kriechen und jenseits der Brandung atemlos in den gelben, heißen Sand fallen. Er spürte Salomes Hand auf seinem Rücken, und er wusste, dass sie ihn gleich besorgt anschauen und – sobald sie erkannte, dass er nur erschöpft war – erleichtert anlächeln würde wie einen übermütigen kleinen Jungen.
Wie könnte er ihr Lächeln ehrlich und aus vollem Herzen erwidern, jetzt, wo seine Entscheidung gefallen war?
Ostia war im Sommer unerträglich. Über der größten Hafenstadt des tyrrhenischen Meeres brannte die Sonne, und die Luft war salzig vom Geruch der Salinen entlang der Küste. Seit Jahrhunderten trotzte man hier dem Wasser das kostbare Salz ab, das Fleisch und Fisch haltbar machte und den Speisen ihre Würze verlieh, aber der oft kräftige Westwind blies ein wenig des feinen Staubes vor sich her. Das Salz brannte in den Augen, legte sich auf das Obst der Märkte und machte die Haut trocken und schuppig, ein ständiges Ärgernis, an das nur gebürtige Ostianer sich gewöhnen konnten.
Doch weitaus anstrengender waren die Menschenmassen, die sich jeden Tag durch die Straßen und über die Piere schoben. Ostia war der Löffel Roms, Ostia fütterte die unersättliche Metropole. Täglich trafen hier Dutzende von Galeeren und Barken aus allen Teilen des Imperiums ein und spuckten ihre Waren aus den prall gefüllten Laderäumen. Getreide und Sklaven, Tiere und Gladiatoren, Gewürze und Marmor ergossen sich über die Molen und wurden von hier auf die letzten Meilen ihres Weges geschickt. An jeder Ecke standen bunt gekleidete Kaufleute und handelten in vielen Sprachen Preise, Termine und Qualitäten aus, so dass vom Vormittag bis in den Abend ein Gewirr von Stimmen über der Stadt lag.
Nachts wiederum, wenn die Salinen abgedeckt und die Händler verschwunden waren, drang der Lärm der trunkenen Seeleute durch die breiten Straßen. Die römische Kriegsflotte nutzte Ostia als Stützpunkt, und da die Küsten des mare nostrum fast gänzlich in römischer Hand waren und es zudem keine Piraten mehr gab, hatten die Marinesoldaten wenig zu tun und prassten stattdessen in den Wirtshäusern, denen es nie besser gegangen war als in den letzten vierzig Jahren des Friedens, den sie Augustus verdankten.
Nur der frühe Morgen konnte für den Lärm und Gestank Ostias entschädigen. Wenn die aufgehende Sonne den Himmel rot färbte und eine milde Brise über die Küste schickte, wenn das Geschrei der Möwen die Stille unterbrach und die erste Barke sich vorsichtig in den Hafen tastete, dann – so sagten die Ostianer – gab es keinen schöneren Platz auf der Welt, als an der Spitze der längsten Mole zu stehen und nach Westen in die Weite des Ozeans zu schauen.
Der richtige Ort, um ein Schicksal zu besiegeln, dachte Akme.
Das Schiff, das sie zurück nach Ashdod bringen würde, stand bereit, doch Akme verharrte weiter an der Mole und blickte auf die einfahrende Barke, deren einziger Mast mit dem Magen David , dem sechszackigen Schild Davids, geschmückt war und darauf hinwies, dass sich der regierende Monarch Judäas an Bord befand. Geduldig beobachtete Akme, wie das Schiff an dem Pier anlegte und die Landungsstege ausgebracht wurden. Dann sah sie Archelaos, und er sah sie.
Er ging zu ihr auf den Pier. »Tante, was für eine Freude«, begrüßte er sie und machte sogar eine leichte Verbeugung, die seiner höheren Stellung unangemessen war. »Ich wusste nicht, dass du auch nach Rom beordert wurdest.«
Sie lächelte. »Im Gegensatz zu dir bin ich ohne Aufforderung hier. Genau genommen bin ich schon wieder weg. Aber ich wollte unbedingt noch dein Gesicht sehen.«
»Oh, wie nett. Warst du bei Augustus?«
»Nicht – ganz«, antwortete sie gedehnt. »Das wäre auch schwierig gewesen, denn er ist zur Kur nach Nola in Süditalien gefahren.«
»Unmöglich«, behauptete Archelaos. »Ich habe eine Audienz bei ihm. Er selbst hat mir eine Botschaft geschickt und …«
»Erzähl mir nicht, was ich schon weiß«, unterbrach sie ihn unhöflich,
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