Die Schluesseltraegerin - Roman
war die Erinnerung an die alte Wanda verblasst, wenige Erzählungen rankten sich um sie, und diejenigen, die sie noch persönlich gekannt hatten, starben nach und nach aus.
Am heutigen Tage, einem Tage im Herbst des Jahres 826 der neuen Zeitrechnung, fand sich plötzlich jemand vor der besagten, nie zuvor gesehenen Behausung der Wanda wieder. Er selbst traute seinen Augen kaum, schon so oft war er an dieser Stelle
vorübergegangen, aber niemals war es ihm aufgefallen, dieses Loch. Unter der weit ausgehöhlten Wurzel einer alten Esche befand sich augenscheinlich der Eingang zu einem Fuchsbau, doch schaute man genauer hin, so erkannte man, dass sich hinter dem Baum ein kleiner, mittlerweile sogar mit hohen Büschen bewachsener Hügel wölbte, der, stapfte man mit den Füßen darauf herum, merkwürdig hohl klang. Das war kein Fuchsbau. Das war ein von Menschenhand geschaffenes Erdloch.
Ansgar war zufrieden. Jetzt galt es nur noch zu warten.
Und tatsächlich, es dauerte nicht lange, da hörte er das fast unmenschlich leise Herannahen eines Lebewesens. Schnell verbarg sich Ansgar im Gebüsch.
Da kam er tatsächlich.
Uralt sah er aus. Die weißen, noch vollen Haare waren so lang, dass er sie oben auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden hatte, der Bart reichte ihm bis zur Brust. Sein Gang war gebeugt, aber dennoch flink. Dünn war er, viel dünner als früher, doch machte er nicht den Eindruck, dass er schwächer geworden war.
Ansgar konnte seine Augen nicht erkennen, konnte nicht sehen, welche Gedanken, welche Absichten sich in seinem Gesicht widerspiegelten. Doch das musste er auch nicht sehen, um zu wissen, dass dieser es war, der alle Gründe dazu hatte, um zu tun, was in den letzten Monaten geschehen war.
»Wen hast du alles auf dem Gewissen, Alter?« Ansgar kam aus seinem Versteck hervor, sein Schwert hielt er bereits in der Hand.
»Weniger als du und deine Sippe, Ansgar, Sohn des Hilger«, antwortete der Greis. Er schien in keiner Weise überrascht zu sein über das Auftauchen des ungebetenen Gastes. »Du bist gekommen, um mich endgültig zu töten.«
»So ist es«, antwortete Ansgar ruhig.
»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass du mir eine Menge zu verdanken hast?«
»So? Was soll das sein?«
»Nun, dein Bruder Rothger ist nicht mehr. Wäre er noch, wer wärest dann du? Nicht der Herr im Hause der Hilgerschen Sippe.«
»Und deshalb sollte ich dich verschonen, du Ungeheuer?«
»Nein. Ich weiß, dass du mich nicht verschonen würdest. Von solcher Art ist nicht dein Blut.«
»Du bist es, der Rache will.«
»So ist es. Ich habe dich gesehen, Ansgar. Auch du bist damals dabei gewesen, genau wie dein Vater und deine Brüder. Ein Kind der eine noch.«
»Es musste sein.«
»Und nun muss dieses sein.«
Kaum hatte er es gesagt, griff der Alte wieselflink unter seinen löchrigen Umhang und holte eine Streitaxt hervor. Ansgar konnte kaum so schnell sehen, was geschah, geschweige denn, dass er hätte ausweichen oder sich wehren können, denn schon hatte ihn die Axt in der rechten Schulter getroffen.
»Nein!«, hörte er noch eine Stimme aus dem Hintergrund, dann brach er blutend und besinnungslos zusammen.
Mitternacht war bereits vergangen, aber im Hause der Hilgerschen Familie brannte noch Licht. Die gesamte verbliebene Familie saß zusammen und wartete bereits seit Stunden auf die Heimkehr ihres Hausherrn.
Ada machte sich große Sorgen. Leise weinend streichelte sie immerzu den Kopf ihres ältesten, bereits dreizehnjährigen Sohnes. Diesem behagte das nicht, sodass er sich schließlich von der Mutter fort zu seinem Vetter Heinrich setzte. Der alte Ulrich schüttelte immerzu nur ungläubig den Kopf.
Die junge Almut und der Zwilling Gisela weinten ebenfalls, Berta hingegen lag schlafend auf ihrem Lager, sie schien sehr krank zu sein. Auch das Gesinde ruhte nicht. Es saß weiter fort von der Familie, nahe dem Stall, und versuchte im Schein der wenigen Kienspäne Handarbeiten zu verrichten.
»Kein gutes Zeichen, kein gutes Zeichen«, murmelte Ulrich vor sich hin.
»Er wird schon wiederkommen«, sagte der junge Heinrich.
»Das habt ihr bei Rothger und Gernot auch gedacht«, entgegnete der Alte bitter. »Und du, Heinrich, du wirst der Nächste sein.«
Mit großen, erschrockenen Augen schaute der Junge den Greis an.
»Du musst mich nicht so anstarren. Das ist der Fluch, den mein Bruder über euch gebracht hat.«
»Was sprichst du da, Alter?«, protestierte Gisela.
»Ja, verflucht hat
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