Die Schluesseltraegerin - Roman
er uns, der Hilger. Viel Gutes hat er uns gebracht, das will ich nicht bestreiten. Aber ebenso viel Schlechtes. Glaubt mir, sein Geist ruht nicht. Aber nicht nur der seine, noch weitere Geister gehen um, denn seine Schuld ist größer, als ihr denkt. Er und all seine Söhne sind nun tot. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte auf den neuen Glauben vertrauen, dann wüsste ich, dass sie allesamt in der Hölle schmoren und niemals wiederkehrten. Allesamt.«
»Schweig jetzt, Alter!«, kreischte Gisela. »Du sitzt dein Lebtag am warmen Feuer, isst, was andere dir bringen. Und das Dach über deinem Kopf hat unser Vater, dein Bruder, errichtet und dich nutzlosen Krüppel hier aufgenommen. So sprichst du nicht von ihm und auch nicht von seinen Söhnen.«
Wissend schaute Ulrich seine aufgebrachte Nichte an und nickte ihr dreimal zu. Dann ergriff der junge Heinrich das Wort, stand auf und rief:
»Ich werde mit den Knechten hinausgehen und Ansgar suchen.«
»Ich begleite dich«, rief Friedrich, der älteste Sohn Ansgars.
»Nichts werdet ihr tun, ihr junges Gemüse. Sollen sie euch abschlachten wie die Lämmer, wenn ihr da hinauszieht?«, schrie der alte Ulrich. »Es sind nicht die Meinradschen, das sage ich euch. Sie sind es nicht!«
»Was, wenn er verletzt ist und irgendwo liegt? Mutter, wir müssen ihn finden. Was sind wir ohne ihn?«, wandte sich der Knabe, die Worte des Alten ignorierend, an Ada. Diese blickte ihn nur schweigend an.
Dann ergriff sie doch das Wort: »Ich werde gehen und ihn suchen.«
»Wir kommen mit«, rief Heinrich.
»Nein, Ulrich hat Recht. Wer weiß, wen es als Nächstes treffen soll. Abgesehen von dem Alten sind du und Friedrich die beiden einzigen verbliebenen Männer in diesem Hause. Ihr solltet auf euch aufpassen. Die Knechte werden mich begleiten. Auf geht’s, ihr beiden, nehmt euch Fackeln und folgt mir.«
»Ansgar, Ansgar! Antworte, wenn du uns hörst.«
»Friling Ansgar, mein Herr, wo steckst du?«
In dieser Nacht war es erneut nicht möglich, Schlaf zu finden. Zunächst hatte Inga gedacht, sie träume schlecht. Doch dann war sie tatsächlich erwacht und hatte das Rufen deutlich vernommen. Die Stimmen einer Frau und zweier Männer durchbrachen brutal die Stille der pechschwarzen Dunkelheit.
Sie riefen offenbar nach Ansgar.
Inga stand auf und ging vor das Haus. Am gegenüberliegenden Hang, auf dessen anderer Seite sich der Hof der Hilgerschen befand, waren Lichter zu erkennen. Von dort, vom Rande des Waldes, fast schon auf dem Weg ins Tal, erschallten die Rufe.
Sie suchten ihn. Er war verschwunden. Ganz so wie Rothger und Gernot. Doch das ging sie nichts mehr an.
Dennoch blieb Inga stehen und folgte den Lichtern mit den Augen, wie sie weiter dahinzogen. Sie sah ihnen so lange nach, bis der Schein der Fackeln in der Ferne verblasste und das Rufen der Stimmen nach und nach verstummte. Aus der alten Schmiede war nur noch das regelmäßige, aber unglaublich laute Schnarchen der krummen Gunda zu hören, welche sich wieder bei Inga einquartiert hatte und offenbar über einen äußerst gesunden Tiefschlaf verfügte.
Inga hatte sich gerade wieder zur Tür gewandt, um sich ebenfalls auf ihr weiches Lager zurückzubegeben, als sie mit einem Mal nach hinten gerissen und dann auf den Boden geschleudert wurde. Sie wollte schreien, kam aber nicht dazu, denn schon legte sich die Hand des weißen Mannes fest auf ihren Mund.
Er war über sie gebeugt, und sein Bart sowie seine langen Haare fielen Inga übelriechend und kitzelnd ins Gesicht. Er sprach kein Wort, sondern holte flink ein Messer hervor, dessen Spitze er so nah an Ingas Hals hielt, dass sie bald spürte, wie ihr das Blut warm über die Brust lief. Jetzt löste er die Hand von ihrem Mund und begann zu sprechen. Seine Stimme war tief und unheimlich.
»Du wirst mir folgen und kein Wort sprechen. Höre ich auch nur einen Ton von dir, dann schneide ich dir die Kehle durch. Vorerst jedoch gehen wir hinein in dein Haus und holen alles heraus, was wir benötigen.«
Inga bibberte. Da war er wieder, und er war tatsächlich zu ihr gekommen, zu ihrer Unterkunft. Und nun wollte er sie holen.
Rasch zog er sie auf die Beine und stieß sie lautlos in die Schmiede, Inga spürte deutlich das Messer an ihrem Rücken.
»Alles, was zur Wundheilung nötig ist«, flüsterte er mit einem
nach faulen Zähnen stinkenden Atem in ihr Ohr. »Verbandszeug, Salben, Tränke und dergleichen.«
Inga packte, was sie in der Dunkelheit finden konnte, in einen
Weitere Kostenlose Bücher