Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
Vom Netzwerk:
des Adalhard und des Wala, obwohl sie die gleichen Absichten verfolgen. Wahrscheinlich, gerade weil sie die gleichen Absichten verfolgen. Ist es nicht so? Er will spionieren, er will Einfluss gewinnen. Die Zeiten ändern sich schnell, der Kaiser ist wankelmütig, und Taddäus baut vor, er bahnt sich still und heimlich seinen eigenen Weg. Und dazu benötigt er dich, und weil er dich nicht überreden kann, will er dich erpressen. Ist es so?«
    Agius blickte seinen Mitbruder verblüfft an und schmunzelte dann.
    »Melchior, Melchior, du versetzt mich tatsächlich in Erstaunen. Wie und wann hast du dir all das zusammenreimen können?«
    »Unterschätze mich nicht, lieber Bruder, unterschätze mich nur nicht. Ich besitze eine rege Fantasie. Was ich jedoch ganz und gar nicht weiß oder erahnen kann, ist der Inhalt des langen, nächtlichen Gespräches zwischen dem Vater Prior und besagtem Taddäus. Tatsache ist, dass ich nun den Auftrag habe, dir dieses versiegelte Schreiben auszuhändigen. Ich fürchte, damit keine gute Nachricht zu überbringen.«
    Melchior reichte Agius ein eingerolltes Stück Pergament, welches bislang unter seiner Kutte verborgen gewesen war. Mit zusammengekniffenen
Augen las Agius die wenigen Worte. Er schien dabei leicht zu erröten, so hatte Melchior den Eindruck.
    »Unkeuschheit«, sagte Agius nur leise.
    Melchior blickte ihn erstaunt an, dann begann er laut zu lachen.
    »Hat der Hofkaplan Taddäus dich gestern etwa ebenfalls halbnackt den Himmel betrachtend vorgefunden? Das ist wahrlich unkeusch, Bruder Agius.«
    »Schlimmer, Melchior, schlimmer. Ich fürchte, dir wird bereits morgen ein anderer Bruder zur Seite gestellt werden.«

XXII
    S eit mehr als zwanzig Sommern weilte die Seherin Wanda nun nicht mehr unter den Lebenden. Ihren eigenen Tod hatte sie kommen sehen, als sie eines Nachts, wie so oft, an der Wegkreuzung zwischen dem Eschenberg und dem Hilgerschen Hof auf einer blutigen Rinderhaut gesessen hatte, um tief in sich gekehrt in die Zukunft zu blicken. In Anbetracht dieser zweifelsfreien Erkenntnis hatte sie damals beschlossen, diesen Ort nicht wieder zu verlassen. Drei Tage und Nächte weilte sie dort und dämmerte vor sich hin, nichts nahm sie zu sich, nichts außer hin und wieder einen kleinen Schluck aus dem Bocksbeutel, den sie stets bei sich führte. Das frische, unbehandelte Rinderfell, welches ihr als Unterlage diente, begann bereits übel zu riechen. Unmengen an Fliegen und anderes Getier fanden sich ein und belästigten auch die Alte, doch diese störte sich nicht daran. Geduldig erwartete sie den Tod.
    Am vierten Tage endlich trat er ein, und niemand anders als der alte Hilger, damals noch im besten Mannesalter, fand ihre knochige Leiche. Unter Androhung des Todes hatte der damals jüngst zum Kaiser erhobene König Karl verboten, was nun geschah. Doch darum scherte sich niemand hier im Sachsenlande: Die tote Seherin wurde an Ort und Stelle verbrannt.
    Schon seit vielen Generationen verbrannten die Sachsen ihre Toten nicht mehr, und deshalb war es ihnen auch ein Leichtes gewesen, das strikte Einäscherungsverbot der Kirche zu befolgen.
Doch im Falle einer Frau, die zeit ihres Lebens zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter hatte wandeln können, einer Frau, der man mit Abscheu und Bewunderung zugleich begegnet war, vor der man sich fürchtete, die man aber dennoch immer wieder aufsuchte – bei einer solchen Frau war ein Erdbegräbnis schier unmöglich.
    Was, wenn sie wieder erwachte? Wenn sie als Tote umherging und die Kinder erschreckte?
    Diese Gefahr hatte man nicht eingehen wollen und deshalb die schon als Lebende für unheimlich gehaltene tote Wanda besser in Staub und Asche verwandelt. Damit war sie dahin. Und woher sie gekommen war, ja, wo sie all die Jahre gelebt hatte, das wusste niemand ganz genau.
    Auf dem Eschenberge habe sie gehaust, darin waren sich alle einig. In einer unterirdischen Höhle, zugänglich nur durch eine mit Moos bedeckte Holzluke, meinten die einen. In einer von Laub und Gras schier unsichtbar erscheinenden Hütte, meinten die anderen. Niemand hatte die Seherin jemals besucht. Die für sie bestimmten Gaben hatte man ihr stets in einen hohlen Baum gelegt, und wollte man sie über die Zukunft befragen, so wartete man, bis sie kam, denn sie war oft in die Häuser der Freien und Laten gekommen. Nach ihrem Tode war man froh, nichts mehr von ihr zu sehen und zu hören, und niemals suchte jemand nach ihrer verwaisten Behausung.
    Mittlerweile

Weitere Kostenlose Bücher