Die Schluesseltraegerin - Roman
orientierungslos durch den Wald davon.
Den Mann mit der Kapuze, der die ganze Zeit hinter einem Busch verborgen war, hatten beide nicht bemerkt.
Bereits am frühen Morgen – Inga war nach einer unruhigen Nacht gerade erst erwacht – standen Gisela und Berta vor der alten Schmiede des Hatho. Es war ein trüber, kalter und nebliger Morgen. Kaum vorstellbar, dass Inga sich noch gestern nackt im Wald gewälzt hatte, ohne zu frieren. Aber die vielen schmerzenden Stellen am Rücken, wo Wurzeln und Steine ihre Spuren hinterlassen hatten, zeugten davon, dass tatsächlich vorgefallen war, woran Inga seither ununterbrochen hatte denken müssen.
»Ihr seid es«, begrüßte sie die Schwestern fast gleichgültig.
Ganz entfallen war ihr der nahende Besuch, welcher das eigentliche Anliegen für das Aufsuchen des Mönches Agius gewesen
war. Doch ihm dieses Anliegen vorzutragen, dazu war sie nicht gekommen, und sicherlich würde sie keinen zweiten Versuch dazu unternehmen.
»Wo also ist der Trank?«, zischte Gisela, ihre Schwester hinter sich an der Hand ins Haus zerrend.
Inga, mit schwerem Kopf und in einer Stimmung, in welcher es ihr sogar gleichgültig gewesen wäre, wenn der Teufel höchstpersönlich angeklopft hätte, um nach Quartier zu fragen, ging mit müden Augen zu dem mit Krügen, Töpfen und anderen Gefäßen gut gefüllten Holzregal, welches sich an der Rückwand der alten Schmiede befand.
»Nimm das«, sagte sie und reichte Berta ein tönernes Fläschchen, ähnlich dem, welches sie zwei Tage zuvor wütend zerbrochen hatte. »Nimm es drei Mal. Jeweils zwei Schlucke. Heute vor dem Schlafengehen, morgen nach dem Aufwachen und ein letztes Mal am Abend. Iss einen Tag lang nichts. Keinen Bissen. Trink nur Wasser, aber davon in großen Mengen. Du wirst dir die Seele aus dem Leibe spucken und ständig zum Misthaufen rennen. Irgendwann kommt es blutig heraus, wahrscheinlich morgen Abend. Dann ist es vorbei.«
»Was ist das?«, fragte Gisela anstelle ihrer Schwester und riss dieser das Behältnis unsanft aus den Händen.
»Das Gleiche, was ihr mir vorgestern gebracht habt«, log Inga.
»Es riecht aber ganz anders«, entgegnete Gisela, mit ihrer winzigen Nase an dem Saft schnuppernd.
»Es ist frisch, darum hat es einen anderen Geruch. Das ist alles.« Wieder log Inga.
»Woraus ist es gemacht?«, wollte Gisela wissen.
»Das verrate ich dir nicht. Aber sei gewiss, dass es wirkt.«
»Wir kommen wieder, wenn sich nichts getan hat«, antwortete Gisela.
»Tut das«, meinte Inga nur gleichgültig und wies den beiden mit einer eindeutigen Handbewegung die Tür.
Sie gingen, gingen mit dem einfachen Leinsamenöl, von dem sie vergeblich hofften, dass damit die Frucht in Bertas Schoß abgetötet würde.
Inga war nun allein, und es gab viel zu tun. Der Herbst würde bald in seine ungemütliche Phase übergehen. Kälte, Nässe und Stürme würden ins Land ziehen, und sie wusste nicht, ob ihre Herberge genügend Schutz vor dieser Witterung bot, geschweige denn vor den Unmengen an Schnee und Eis, die der Winter brachte. Vorräte mussten angelegt, Ausbesserungen an Haus und Hof vorgenommen werden, und zu alldem wäre es notwendig, sich aufzuraffen, die Menschen in den Siedlungen und auf den Höfen zu besuchen, ihnen Heilmittel gegen alle anfallenden Leiden der kalten Jahreszeiten anzupreisen und im Tausch dazu allerlei Nützliches zu ergattern. Doch Inga konnte sich nicht aufraffen. Selbst die Ziege und die drei neuen Hühner zu füttern, bereitete ihr Mühe. Ihr Geist war vollkommen verwirrt, ihre Gedanken schweiften hin und her und immer wieder zurück zu dem Vorfall im Wald.
Schön war es gewesen, sogar wunderschön. Aber ebenso unangenehm und schrecklich. Noch nie im Leben hatte sie sich im Nachhinein für eine Tat derartig geschämt. Nicht, als sie ihre Familie in Nacht und Nebel verlassen hatte, um dem wilden Rothger zu folgen, nicht, als sie sich zum ersten Male hinter dem Rücken seiner Frau mit Ansgar im Grubenhaus getroffen hatte. Denn all das hatte Inga mit Bedacht gemacht. Ja, sie hatte bei alldem immer gewusst, was sie tat und warum sie es tat.
Die Frau eines der reichsten Erben der Gegend zu werden, war für sie ein durchaus größerer Anreiz, als sich von ihrem Vater mit irgendeinem armen, aber freien Vetter verheiraten zu
lassen. Und als Geliebte des Mannes, der nach dem Tode Rothgers zu ihrem Vormund geworden war, ließ es sich durchaus angenehmer leben, so war ihr Gedanke gewesen, als sich ständig
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