Die Schluesseltraegerin - Roman
geneigt.
»Habe ich nicht.«
»Ohne geht es nicht.«
»Halt’s Maul, sonst stopfe ich es dir.«
Inga griff in ihre Haare. Da war tatsächlich noch eine Nadel, die sie vor dem Schlafengehen nicht herausgenommen hatte. Sie holte ein weiteres sauberes Leinentuch aus dem Beutel und löste daraus einen möglichst langen Faden ab, den sie mühselig um die Haarnadel wand.
»Das wird nicht halten«, murmelte sie vor sich hin, und mit einem Mal stand er hinter ihr, das Messer an ihren Nacken gedrückt.
»Ich steche dich ab, wenn du noch ein einziges Wort sagst, du elende Schlange.«
Inga nickte stumm. Ansgar versuchte sich vergeblich aufzurichten, wand sich auf seinem unfreiwilligen Lager hin und her und blickte den Alten mit einem tödlichen Blitzen in den Augen an. Im Nu hatte er das Messer am Hals.
»Den Gnadenstoß sollte ich dir setzen, Hilgerschwein.«
Inga rührte sich nicht, sondern wartete nur bang ab. Dem Weißen war es ernst, und umso misslicher war ihre Lage, denn was nur würde mit ihr geschehen, wenn ihre Aufgabe vollendet war? Er ließe sie doch nicht so einfach gehen? Niemals.
Mit zitternder Hand setzte Inga an, die Wunde zu nähen. Es mussten höllische Schmerzen sein, denn die Nadel war stumpf, hölzern und dick. Doch Ansgar ertrug auch dieses mit einer Tapferkeit, die Inga nahezu erneut herausforderte, sie ihm endlich auszutreiben. Doch sie hielt sich zurück.
Sie hätte die Wunde ausbrennen können, so wie sie es mit den Tollwutbissen getan hatte. Aber diese Methode hatte ihr niemals gefallen. Lieber erinnerte sie sich daran, wie einst ihre Großmutter einem Knecht das Leben gerettet hatte, dem beim Sturz vom Dach die ganze Seite von einem spitzen Ast aufgeschlitzt worden war.
»Wie ein zerrissener Mehlsack sieht das aus«, hatte die Großmutter ruhig und gelassen in Anbetracht der schrecklichen Wunde gesagt. »Und wie einen zerrissenen Mehlsack werde ich das jetzt stopfen.«
Der Knecht hatte daraufhin noch drei Jahre gelebt, bis er im Vollrausch in dem nur knöcheltiefen Bach ersoffen war.
Inga bestaunte ihr eigenes Werk. Schön sah die Narbe aus. Nun noch eine Paste aus Blutkraut und Wegerich, dann einen Umschlag mit getrockneten Taubnesseln, und der verletzte Ansgar war versorgt.
Dürfte sie reden, würde sie eine Zauberformel gegen das Fieber murmeln, gegen welches sie leider kein Kraut bei sich trug. Doch sie durfte nicht reden. So sagte sie den Spruch in Gedanken auf und strich dabei dem Kranken sanft durchs Haar.
Unwillkürlich musste sie dabei lächeln, denn so lieb und friedlich, wie er nun dalag, gefiel er ihr ausgesprochen gut. Ja, sie dachte sogar bei sich, wie es gewesen wäre, wenn sie seine und nicht Rothgers Frau geworden wäre. Doch die Schicksalsgöttinnen hatten ihnen einen anderen Weg bestimmt. Und dieser hatte sie nun hierher geführt, wo sie sehr wahrscheinlich dennoch einen wichtigen Schritt gemeinsam beschreiten würden – den Schritt vom Leben in den Tod.
Inga drehte sich vorsichtig um und nickte dem Weißen zu.
Dieser erhob sich und zerrte sie am Arm in Richtung Ausgang.
»Was ist zu tun, damit er nicht krepiert?«, fragte er düster, als sie wieder draußen waren.
»Den Verband wechseln, dreimal am Tag. Die Wunde muss jedes Mal mit der Paste eingerieben werden, die ich neben dem Lager habe stehen lassen, auch Verbandszeug ist ausreichend da. In vier Tagen sollte alles besser sein. Was geschieht jetzt mit mir?«
»Erwürgen müsste ich dich. Nicht, weil ich etwas gegen dich habe. Allein, dass du zu viel weißt, ist Grund genug. Doch du hast Glück. Jemand meint es gut mit dir. Unterschätze jedoch nicht meine Macht. Sollte sich auch nur ein Mensch in die Nähe dieses Unterschlupfes begeben, dann werde ich den Hilgersohn töten. Und auch dich, Inga, Abkömmling des Bero, werde ich finden und auf grausame Weise aus diesem Leben befördern. Du bekommst eine Schonfrist. Setze sie nicht aufs Spiel. Meine Augen sind überall. Ich erfahre alles!«
Dann band er ihr wieder die Augen zu, drehte sie ein Dutzend
Mal im Kreis und führte sie zurück, jedoch nicht bis zu ihrem Hause, sondern nur bis zu einer Wegkreuzung, derselben, an der einst die Seherin Wanda gestorben und verbrannt worden war. Dort ließ er sie allein stehen. Und als sie es schließlich wagte, sich selbst von der Augenbinde zu befreien, war er schon verschwunden.
Inga kam nicht dazu, lange über all das, was sie erlebt hatte, nachzudenken. Denn nur wenige Augenblicke später – sie war den
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