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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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heraufbeschworen zu haben. Doch nun bin ich mir sicher, dass der Weiße hinter diesen Mordtaten steckt. Aber den Tod der Berta, den habe ich verschuldet. Sie haben mich gezwungen, aber Hand angelegt habe ich allein.«
    »Das ist tatsächlich eine nahezu unverzeihliche Sünde, Inga«,
sagte Melchior traurig. »Und ich vermag gar nicht zu sagen, wie schwer die Buße für eine solche Untat veranschlagt ist. Du musst es unbedingt einem Priester beichten, unbedingt.«
    »Das weiß ich, aber wahrscheinlich werde ich gar nicht dazu kommen. Sie werden mich holen, das steht außer Frage.«
    »Sie dürfen es nicht. Und das wissen sie. Wie anders kannst du dir erklären, dass sie dich nur bis in die Nähe der Kapelle verfolgt haben und es nicht einmal wagten, den Hain zu betreten?«
    »Ach, Bruder Melchior, du kennst sie schlecht«, seufzte Inga. »Jetzt in diesem Moment sitzen sie unten im Tal beisammen, reden über mich und betrinken sich dabei. Mit jedem Schluck, mit jedem Wort wird ihre Wut größer, und noch in dieser Nacht werden sie vor der Kirche stehen, um mich zu holen.«
    »Das dürfen sie nicht. Schon der große Karl hat die Sachsen in seiner Capitulatio eindringlich auf das Einhalten des Kirchenasyls hingewiesen. Es ist nicht nur ein Frevel gegen Gott, sondern auch gegen den Kaiser und den weltlichen Arm der Herrschaft, wenn sie es wagen, die Hand gegen ein Gotteshaus zu erheben.«
    »Wissen sie das?«, fragte Inga nüchtern.
    »Ich denke, dass sie es zumindest ahnen. Fürchte dich nicht. Gott wird dich schützen. Du bist eine große Sünderin, aber auch eine reuige Sünderin, und solche sind dem Herrn lieber als dieses heidnische, unverbesserliche Volk von Trunkenbolden.«
    Inga musste nun doch ein wenig lächeln. So also war Bruder Melchiors Eindruck von den Bewohnern des Augaus im Lande der Engern, zugehörig zum Stamme der Sachsen.
     
    Die Zeit verging. Der Herbst zog durch die Wälder, das Laub fiel, Stürme fegten über Hügel und Täler, die Tage wurden kürzer, die Nächte länger. Und dann kam der erste Schnee.

    Inga lebte noch immer zusammen mit Bruder Melchior in der kleinen Kapelle, noch immer genoss sie das Kirchenasyl. Und langsam glaubte sie, dass es gar nicht mehr nötig war, es in Anspruch zu nehmen, denn sie wartete vergebens. Beide warteten sie vergebens.
    Inga auf das Heranstürmen der mordenden Meute, Melchior auf das Eintreffen eines neuen Mitbruders. Beides blieb aus, und damit war Inga für ihren Teil sehr zufrieden. Sie wagte sich mitunter sogar hinaus in den Wald, vermied es, in die Nähe bewohnter Höfe oder gar ins Tal zu kommen, aber durchstreifte durchaus ihr bekannte Gegenden, um nicht den ganzen Tag in der kleinen, dunklen Kapelle sitzen zu müssen. Sie hatte sich in der Kirche eingerichtet, nicht etwa in dem winzigen Verschlag, der als Wohnstatt für die Geistlichen angebaut worden war. Denn dies war der Schlaf- und Aufenthaltsort des Mönches Melchior, und hier hatte eine Frau nichts zu suchen – das verbot ihm nicht nur sein Gelübde, sondern auch die Tatsache, dass ihm der Umstand, mit einem Weib zu leben, durchaus sehr unangenehm gewesen wäre. Ein Plausch hier und da, ein gemeinsames Abendessen, vielleicht auch ein Spaziergang – aber Tag und Nacht eine Frau um sich zu haben, war ihm kein Wunsch. Nicht umsonst fühlte er sich in seinem Leben als Mönch so wohl.
    Dabei stellte Inga nicht einmal eine Versuchung für ihn dar. Sie war schön, das stand außer Zweifel, und von liebenswertem Gemüt war sie zudem, doch Melchior machte sich aus derlei Dingen nichts. Das hatte ihn noch nie bewegt, nicht die Frauen, und noch viel weniger die Männer und Buben. Er war in dieser Hinsicht gleichmütig. Ihm war es wichtig, seinen Aufgaben in vollem Umfange nachzugehen, und zu diesen Aufgaben gehörten nicht nur die Pflichten, die ihm die Regeln des heiligen Benedikt und der Glaube an den einen und allmächtigen Gott auferlegten.
Zu diesen Aufgaben gehörte auch das innige Studium der Insekten, von denen er heimlich, ohne Wissen des Agius, ein ganze eigene Bibliothek angelegt hatte, eine Bibliothek, die weniger aus Geschriebenem denn mehr aus Getrocknetem bestand. Ja, Melchior besaß eine Bibliothek aus verstorbenen und getrockneten Schmetterlingen, Bienen, Fliegen, Wespen, Spinnen, Ameisen, Käfern, Schaben, Würmern und Larven.
    Und dieser Sammlung widmete er sich ausgiebig. Mitunter präsentierte er sie Inga, meistens jedoch studierte er sie alleine, und zu diesem Zwecke war es

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