Die Schluesseltraegerin - Roman
nach Sonnenaufgang verließ sie, ohne sich von Melchior zu verabschieden, die Kirche und stapfte über die leichte Schneedecke davon.
Noch wusste sie nicht, wohin. Hauptsache fort, fort von diesem Gefängnis, fort von der Untätigkeit, fort von der Ungeduld und Ungewissheit. Unwillkürlich fand sie den Weg den Berg hinab zur Schmiede. Es war ihr gleich, dass sie deutliche Spuren im Schnee hinterließ und dass es etwaigen Verfolgern ein Leichtes sein würde, sie aufzuspüren und endlich gefangenzunehmen. Aber wollten sie das noch?
Die Schmiede war kurz und klein gehauen, stellenweise verkokelt, das Dach vollständig eingerissen, die Wände zerschlagen.
Einige der Krüge, Dosen und Körbe, in denen Inga ihre Kräuter und Essenzen aufbewahrt hatte, lagen in Scherben und Bruchstücken auf dem nassen und matschigen Boden verteilt. Hier war nichts mehr zu machen, alles war zerstört.
Doch Inga kümmerte es nicht, denn an eine Rückkehr war ohnehin nicht zu denken. Sie verließ den Ort der Verwüstung und ging weiter talwärts, überquerte den rutschigen Steg, der über den Bach führte, und machte sich auf, auf der anderen Seite des Tales den Hilgerschen Wald zu betreten.
Hier, in diesem Wald, unweit des Hofes, sollte der arme, junge Heinrich seinem Mörder begegnet sein. Es waren bereits Wochen vergangen, alles war vom restlichen Herbstlaub und schließlich vom Schnee bedeckt, aber dennoch zog es Inga zu der Stelle, von der es hieß, dass dort Heinrich gestorben war. Warum, das konnte sie sich selbst nicht erklären.
Bald hatte sie den Anfang der Quellmulde erreicht. Er lag noch im tiefen Wald, doch nicht weit davon hörte der Baumbestand auf, und man konnte bereits auf die Häuser und Stallungen des Hilgerschen Anwesens blicken. Alles war ruhig, Qualm stieg aus dem kleinen Loch im Dach des Langhauses, aber von einer Menschenseele war nichts zu sehen. Inga ging um den oberen Rand der Quellmulde herum. Nichts, nur Schnee und die Spuren von Mäusen und Kaninchen im frischen Weiß.
Was hatte sie anderes erwartet?
Inga richtete ihren Blick nach oben. Sie suchte in den Kronen der Bäume nach einem Zeichen. Was für ein Zeichen? Von wem? Sie wusste es nicht.
Lange stand sie so, den Kopf in den Nacken gelegt, sich immer auf der Stelle drehend und in die kahlen Äste blickend. Ein angenehmer Schwindel bemächtigte sich ihrer, und sie musste die Arme ausbreiten, um nicht umzukippen, dennoch drehte sie sich weiter.
»Was tust du da, Inga?«
Inga erschrak.
Es war Ada. Mit einem leeren Eimer in der Hand stand sie vor ihr und schüttelte stumm den Kopf.
Inga wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr war selbst nicht klar, was sie da tat.
»Es ist nicht ungefährlich für dich, dich hier aufzuhalten. Was, wenn nicht ich, sondern Gisela zum Wasserholen gegangen wäre?«
»Es tut mir leid, was mit Berta geschehen ist, Ada.«
Ada nickte. Dann sagte sie: »Ich kann mir denken, wie sie dich dazu gebracht haben. Sie sind hinterlistig und heimtückisch und tragen selber Schuld an dem Geschehen.«
»Sie hatte keine Geschwulste da unten, sie erwartete ein Kind.«
»Das weiß ich doch. Das ahnt im Grunde jeder. Und darum ist Gisela auch ganz stumm geworden, sie redet nicht mehr darüber. Aber sie zürnt dir noch.«
»Und du?« »Ich? Wieso sollte ich dir böse sein? Du hast meinem Kind das Leben gerettet.«
»Wegen Ansgar. Ich habe ihm nichts getan, das schwöre ich dir.«
»Wer weiß, mit wem er wieder gerauft hat. Fest steht nur, dass er den Verstand verloren hat. Er benimmt sich schlimmer als ein Kind.«
»Es gibt einen weißen Mann, Ada. Es gibt ihn, auf dem Eschenberg. Er war es.«
Inga wusste, dass es gefährlich war, von dem Weißen zu sprechen. Sie fürchtete sich schrecklich vor ihm, mehr als vor dem Mob. Ständig sah sie ihn des Nachts vor ihrem Lager stehen, sah ihn, wenn sie durch die kleinen Luken der Kirche spähte,
im Wald herumschleichen. Wahrscheinlich war es nur eine Traumgestalt, aber sie glaubte sich stets von ihm beobachtet. Sie hatte Melchior von ihm berichtet, und allein das bereitete ihr große Sorge, denn der Weiße hatte ihr gedroht, hatte gesagt, seine Augen seien überall. Wenn sie redete, würde er sie töten. Doch Inga konnte nicht anders, sie musste ihr Wissen erneut preisgeben, konnte es nicht länger mit sich herumtragen.
Ada verzog keine Miene, als Inga den Weißen erwähnte.
»Wie kommst du darauf, dass es ein weißer Mann war? Und wer soll das sein?«
»Ich habe ihn schon zwei Mal
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