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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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getan«, fauchte Inga zurück.
    »Deine Großmutter, die hat es getan. So erzählt man sich.«
    »Das ist nicht wahr.«
    »Mach es, sonst sind wir alle verloren. Auch du.«
     
    In den folgenden Tagen ereigneten sich erneut eigentümliche Dinge im Hause der Hilgerschen. Ansgar, wieder heimgekehrt, genas offenbar von seiner schweren Schulterverletzung, sein Verstand jedoch kam nicht wieder. Zunächst hatte man geglaubt, es sei der Schock, die Müdigkeit, die Schmerzen, die seinen Geist benebelten. Doch dann zeigte sich, dass er offenbar dauerhaft in einen Zustand vollkommener Umnachtung eingetreten war. Er aß, trank, verrichtete sein Geschäft, ja er lächelte immerzu, doch sprach er, wenn er sprach, wirres Zeug. Das anstehende Tagwerk interessierte ihn nicht, viel mehr kümmerte er sich plötzlich um seine Kinder, saß mit den Kleinsten auf dem Boden, baute Häuser aus Holzklötzen, ließ Kugeln rollen, tobte und raufte mit ihnen.
    Ada sah all dies mit Schrecken, und auch die Übrigen waren entsetzt über das außergewöhnliche Verhalten.
    »Den Verstand hat man ihm geraubt«, schüttelte Ulrich den Kopf.
    Doch Ansgar war nicht der Einzige, um den man sich im Hause sorgte. Berta war schon seit vielen Tagen krank. Zunächst war sie nur blass gewesen, hatte weder gegessen noch getrunken, sich ständig übergeben und unter Durchfall gelitten.
Dann war es besser geworden. Jetzt hingegen schien sie plötzlich ein schreckliches Fieber befallen zu haben.
    Ihre Schwester Gisela kümmerte sich um sie, wechselte die Laken und ließ weder die Mägde noch Ada in die Nähe der Leidenden.
    An einem Tag jedoch geschah es, dass die arme Berta in Starrkrämpfe verfiel. Mit einem Mal krümmte sie sich und schrie so markerschütternd, dass selbst das Vieh im Stall unruhig an seinen Stricken zog. Die Kühe muhten, die Pferde schnauften, und die beiden Hunde begannen entsetzlich zu jaulen.
    Im nächsten Moment richtete sich Berta in ihrem Lager auf, das Gesicht, zuvor noch feuerrot vom Fieber, nun leichenblass; in ihrem Schoß bildete sich ein kleiner blutiger Fleck, zog sich langsam, aber deutlich durch den Leinenstoff, wurde größer und färbte diesen dunkel. Dann stöhnte sie noch einmal laut und tief, bevor sie wie ein Brett nach hinten umfiel und starb.
    Kreischend sprang ihre Schwester Gisela auf, sich die Haare raufend stürzte sie nach draußen. Alle anderen waren still. Nur Ansgar stritt sich mit seinem kleinen Sohn um ein Holzpferdchen.

XXIV
    E inen ganzen Korb voller duftender Pilze hatte sie gesammelt und freute sich nun, ihn nach Hause zu tragen, um sich ein herrliches Abendmahl zu bereiten, als Inga eine Schlange von Menschen den Bachlauf entlangziehen sah. Inga verharrte am Rande des Waldes, des Waldes ihrer Vorväter, und blickte gespannt hinunter ins Tal.
    Die Schlange kam aus der Siedlung und bewegte sich eilig fort, gerade überquerte sie den kleinen Bach und strebte den Berg hinauf. Ein gutes Dutzend Menschen war es, Männer und Frauen. Aus der Ferne und in der Dämmerung konnte Inga ihre Gesichter jedoch nicht erkennen.
    Vorsichtshalber blieb sie regungslos an der Stelle, an der sie stand. Wer weiß, wohin es die Leute zog, was sie im Schilde führten und ob sie nicht vielleicht ihr, Inga, einen wenig freundlichen Besuch abstatten wollten. Längst war ein solcher Besuch überfällig, nach allem, was in den Tälern und Bergen dieser Gegend von ihr gesprochen wurde.
    Sie kamen näher, erreichten bald die Schmiede.
    Ruhig waren sie, kein Gemurmel, kein Geschrei oder Gezeter. Still, aber entschieden stapften sie hintereinander den Weg hinauf. Zur Kapelle oder zum Opfermoor wollten sie sicherlich nicht, dann hätten sie den anderen, weniger beschwerlichen Weg gewählt.
    Inga wurde plötzlich übel. Sie setzte den Korb mit den Pilzen
ab, ihr Duft wirkte nun weniger verführerisch auf sie, vielmehr regte er sie fast zum Speien an.
    Jetzt würden sie sie lynchen.
    Ja, sie waren gekommen, um sie zu erschlagen. Das war gewiss.
    Und Gisela war ihre Anführerin.
    In diesem Moment hatten sie die Schmiede erreicht, und Inga konnte deutlich erkennen, dass es sich bei der Person in der ersten Reihe um eine der Hilgerschen Zwillingsschwestern handeln musste: klein, halslos, mit kurzen, schnellen Schritten und der ihr eigenen Körperhaltung, den Kopf entschieden in den Nacken geworfen und das nicht vorhandene Kinn nach vorne gestreckt.
    Es war zweifelsohne Gisela, denn Berta dürfte nach dem blutigen Eingriff, den Inga an ihr hatte

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