Die Schluesseltraegerin - Roman
vornehmen müssen, noch nicht in der Lage gewesen sein, solch strammen Schrittes umherzuwandern.
Plötzlich wurde Inga noch übler. Sie merkte, wie die Kälte ihr ins Gesicht stieg und ihr dann eisig über den Rücken zog. In ihrem Magen jedoch begann es empfindlich zu brodeln, und sie musste sich die Hand vor den Mund halten und arg mit sich ringen, um nicht zusammenzubrechen.
Es war nicht gutgegangen.
Deshalb waren sie hier.
Es war nicht gutgegangen.
Inga hatte es befürchtet. Die Frucht war bereits zu groß gewesen, viel Blut hatte Berta bei dem Eingriff verloren, so viel Blut, dass die unwissende Gunda am Tage darauf, den Boden der Schmiede betrachtend, gefragt hatte, ob Inga ein Schwein geschlachtet habe.
Sie hatte so etwas noch nie getan, noch nie in ihrem Leben, und sie wollte sich gar nicht wieder vor Augen führen, auf welche
Art und Weise sie die arme Berta von ihrem ungewollten Kinde hatte befreien müssen. Doch diese beiden furchtbaren Weiber hatten doch darauf bestanden, hatten Inga erpresst. Sie hatte nicht anders handeln können, und schließlich war sie so eingeschüchtert und wütend zugleich gewesen, dass es ihr kaum etwas ausgemacht hatte, eine rostige, schmale Eisenstange aus den Restbeständen des Schmiedes Hatho zu Hilfe zu nehmen.
Es wäre einem Wunder gleichgekommen, wenn Berta frei von Fieber geblieben wäre.
Einem Wunder.
Inga hatte in den letzten Tagen den Gedanken an diese Tat verdrängt. Was hätte sie auch anderes tun können? Ein Krankenbesuch bei Berta, das Betreten des Hilgerschen Hofes, nach allem, was in der letzten Zeit vorgefallen war, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.
Doch jetzt war sie offenbar gestorben.
Gestorben oder dem Tode sehr nahe.
Anders konnte Inga sich das Herannahen des zwar übersichtlichen, aber dafür umso entschlossener auftretenden Mobs nicht erklären.
Zwei von ihnen, darunter Gisela und ein Mann, den Inga bislang aus der Ferne noch nicht hatte erkennen können, waren nun in die Schmiede eingedrungen, der Rest der Schlange hatte sich auf dem Hofe verteilt und wartete. Als die beiden Gestalten nach kurzer Zeit wieder aus dem Hause heraustraten, setzte ein erstes Gemurmel ein. Es wurde lauter, und schließlich drangen einzelne Worte bis zu Inga an den Waldrand durch.
»Geflohen ist sie, die Unholdin.«
»Gewiss zu einem ihrer vielen Buhlen.«
»Brennen wir alles nieder.«
»Nieder mit der Schmiede.«
»Zerstampft alles Hexengebräu und Hexenkraut!«
Und dann begann das Zerstörungswerk. Inga wandte ihren Blick ab. Eine nie dagewesene Leere machte sich in ihr breit, eine Hoffnungslosigkeit, die ihr nur einen einzigen Gedanken ließ: auf zum nahen Opfermoor, hineinsteigen und sterben, bevor der Mob dies für sie erledigte.
Und dass es so weit kommen würde, war gewiss. Sie waren aufgebracht und nicht zu halten. Es würde keine Verhandlungen geben, keinen Rat der Ältesten, kein Vorsprechen beim Grafen. Man würde sie einfach töten, denn Grund genug hatte man dazu.
»Da ist sie! Da, im Wald!«
Jetzt hatten sie sie entdeckt. Ein junger Kerl war bereits dabei, eiligen Schrittes den Berg hinauf auf sie zuzustürmen. Soweit Inga das auf die Schnelle erkennen konnte, handelte es sich um einen der Halbwüchsigen, die sie noch jüngst durch den Kapenwald verfolgt hatten.
Mit einem Mal verspürte Inga gar keine Lust mehr zu sterben. In Windeseile drehte sie sich um und stürmte in den Wald davon. Zur Kapelle, zur Kapelle.
Nicht lange war es her, da hatte Gunda davon erzählt, dass der neue Glaube auch gute Dinge mit sich brachte.
»Kirchena…, ach, ich weiß nicht, wie es heißt, auf jeden Fall kann sich jeder in die Kirche retten. Geschlagene Frauen genauso wie entflohene Knechte, selbst Räuber. Wer in einem Gotteshaus um Unterschlupf bittet, dem muss dieser gewährt werden. Und die Häscher, selbst wenn sie im Recht sind, müssen draußen warten. Doch wehe, der sich Verbergende setzt auch nur ein einziges Mal einen Fuß nach draußen …« Und dann hatte Gunda eine eindeutige Handbewegung an ihrem Hals gemacht.
Kirchenasyl – das war es, um was Inga nun bitten würde. Und sie hoffte inständig, dass dieser ungläubige Mob wusste, an welche neuen Regeln er sich zu halten hatte.
Mindestens fünf waren es, die ihr nun empfindlich nah auf den Fersen waren. Ingas Lunge schmerzte bereits. Über Stock und Stein stolperte sie durch den ihr zum Glück aus Kindheitstagen mehr als vertrauten Wald der Lichtung entgegen, wo ihre Rettung auf
Weitere Kostenlose Bücher