Die Schluesseltraegerin - Roman
wichtig, dass ihn die Frau nicht ablenkte. Sie musste also in der Kirche leben, in der sie ein Feuer machen durfte und die ohnehin fest und trocken genug war, um mehr Geborgenheit und Schutz zu spenden als ein jedes der umliegenden hölzernen und geflochtenen Langoder Grubenhäuser.
Während dieses Studiums war Melchior hin- und hergerissen. Einerseits wartete er auf das Erscheinen des neuen Mitbruders, anderseits war er um jeden Tag froh, den er in Ruhe und Abgeschiedenheit zu einem großen Teil seiner Leidenschaft für Krabbeltiere widmen durfte. Doch ohne Hilfe war es schwierig, der vor allem seelischen Bedrängnis standzuhalten. Denn Bruder Melchiors Seele war stark bedrückt, und in Momenten, in denen er sich nicht mit Unterhaltungen oder eben seinen geliebten Insekten ablenkte, quälte er sich sehr.
Wann endlich würde wieder eine Nachricht aus dem Kloster eintreffen?
Hatten sie ihn, den Mönch Melchior auf dem heiligen Berg, ganz vergessen?
Wäre es nicht an ihm, wieder einmal einen Besuch im Kloster zu machen?
Wann würde der neue Bruder kommen?
Wer wäre es?
Würde er ihn schelten, weil es ihm nicht gelungen war, die Menschen in die Kirche zu locken?
Aber was sollte er auch tun?
Die Messe lesen durfte er nicht, und zu den Menschen war er oft genug gegangen und tat es auch jetzt noch, um mit ihnen zu sprechen.
Viele jedoch waren argwöhnisch geworden, weil er Inga, die Geächtete, beherbergte.
Ja, die Frau Inga.
Er hatte ihr versprochen, niemandem im Kloster von ihrem Aufenthalt in der Kapelle zu erzählen.
Er hatte sich an dieses Versprechen gehalten.
War das richtig?
Sollte er nicht besser dem Prior berichten?
Sollte er nicht doch einmal wieder ins Kloster wandern und in Erfahrung bringen, wie es seinem Freunde Agius erging?
War der noch immer zur Buße verurteilt? Weilte er noch immer, verbannt vom Klosterleben, in einsamer und schweigsamer Klausur?
Diese und hunderte weiterer Fragen quälten den guten Melchior, und deshalb hatte er sich entschieden, Gott entscheiden zu lassen. Es galt abzuwarten, seine Pflichten zu erledigen, nichts Neues zu beginnen, nichts Altes von sich zu stoßen und zu sehen, was ein jeder weiterer Tag mit sich brachte. So lange galt ihm die Anwesenheit Ingas und der toten Insekten als willkommener Zeitvertreib.
Inga war ähnlich hin- und hergerissen. Zu Anfang ihres Aufenthaltes in dem Gotteshaus hatte sie von Melchior, der ins Tal zu den Leuten gegangen war, erfahren, dass Berta tatsächlich gestorben war.
Die bösartige Gisela hatte nicht etwa die Wahrheit über den
Tod der Schwester berichtet, sondern eine ganz und gar unglaubliche Geschichte erfunden. Berta, so hatte sie allen Menschen weisgemacht, habe an bestimmter Stelle an kleinen, knotigen Geschwüren gelitten. Im Vertrauen auf ihre in der Heilkunde bewanderten, verwitweten Schwägerin Inga habe sie ebendieser von ihrem Problem berichtet und gleichzeitig ihre Sorge kundgetan, wegen dieser Beulen niemals ein Kind empfangen zu können. Inga habe diese Sorge bestätigt und Berta geraten, die roten Gewächse zu entfernen. Doch nicht etwa ein Wässerchen oder eine Salbe habe sie zu diesem Zwecke angerührt, nein, mit einem rostigen Eisenstab sei sie der gutgläubigen Berta zu Leibe gerückt. Und damit sei diese nicht nur ihrer Jungfräulichkeit, sondern wenige Tage später auch ihres Lebens beraubt worden.
Inga war somit eine bösartige Unholdin, die im Übrigen auch den armen Ansgar aus Eifersucht zunächst an der Schulter verletzt und schließlich mit Hilfe eines Liebestranks in den Wahnsinn getrieben habe.
Dieser, so berichtete Melchior nach einem Besuch auf dem Hilgerhof, verhalte sich tatsächlich höchst merkwürdig, ja sogar mitunter possierlich und so lustig, dass selbst der Mönch manches Mal herzlich über ihn hatte lachen müssen.
All diese Begebenheiten sprachen nicht für Inga, und auch Melchior hatte bald eingesehen, dass es Inga nur noch mehr schaden würde, wenn sie den Menschen von ihrem Verdacht bezüglich des Waldmannes berichteten. Man würde ihnen nicht glauben. Und ihn eigenmächtig zu suchen und ausfindig zu machen, dazu fürchtete sich Melchior zu sehr vor ihm. Er riet auch Inga dringend davon ab.
Nach einigen Wochen, so stellte der Mönch jedoch beruhigt fest, schien sich die Wut der Menschen auf die böse Witwe einigermaßen gelegt zu haben. Zwar ging Melchior, je unbequemer
das Wetter war und je sicherer er sein konnte, dass alsbald kein Gesandter des Klosters mehr
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