Die Schluesseltraegerin - Roman
sie wartete.
Je näher sie dem Gotteshaus kam, desto größer wurde ihre Sorge, dort niemanden anzutreffen. Hoffentlich, und dabei betete sie zum ersten Male in ihrem Leben inständig zum neuen Gott, hoffentlich waren die Mönche dort.
Die Stimmen hinter ihr wurden lauter, Inga wagte es nicht, sich umzudrehen.
»Zu den Mönchen läuft sie«, vernahm sie die keuchenden Worte eines Mannes.
Und dann, gerade als Inga ihre letzte Kraft aus sich herauszuholen versuchte, merkte sie, dass sie nicht mehr verfolgt wurde. Sie waren stehengeblieben. Hastig drehte sie sich um, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Tatsächlich, sie standen, standen da wie vor einer unsichtbaren Mauer, fuchtelten wild mit den Armen, gestikulierten deutlich und obszön in Ingas Richtung, rührten sich jedoch nicht von der Stelle. Kein Wort, kein Rufen.
Inga lief weiter, lief die letzten Schritte bis zur Kirche und stürmte, ungebremst und ohne zuvor an die Türe zu pochen, in die Kammer der Mönche.
»Nun ja, es ist durchaus unsere Pflicht, Verfolgten Schutz zu gewähren. Die Kirche und der Grund, auf dem sie steht, ist Friedensbereich. Hier darf niemandem Gewalt angetan werden.«
Bruder Melchior war auch nach einer halben Stunde noch immer überrascht und sichtlich irritiert. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er mit der ihm so urplötzlich anvertrauten Aufgabe sichtlich überfordert war.
»Jedoch bin ich mir nicht sicher«, fuhr er fort, »wie viele
Schritte du aus dem Gotteshaus herausmachen darfst. Ich hörte von dreißig, an anderer Stelle las ich von fünfzig. Besser ist es, ich bespreche diesen ungewöhnlichen Sachverhalt mit meinen Brüdern und vor allem mit dem Vater Prior. Du bist doch unbewaffnet, Inga von der alten Schmiede, oder etwa nicht?«
Inga nickte. Gerade erst war sie wieder zu Atem gekommen und hatte dem Mönch, den sie im Übrigen allein angetroffen hatte, von der Hetzjagd erzählt. Nach den Gründen für die Verfolgung hatte Melchior bislang nicht gefragt.
»Wie lange kann ich hierbleiben?«, fragte sie.
»Nun, das vermag ich gar nicht zu sagen. Jetzt, wo Bruder Agius nicht mehr hier ist, bin ich in vielen Dingen ein wenig ratlos.«
»Bruder Agius ist fort?« Inga war noch zu aufgewühlt, um ihre Überraschung oder vielmehr ihre Enttäuschung über diese Neuigkeit verbergen zu können.
»Nun ja. Er muss Buße tun. Gewaltige Buße tun.«
»Ist das wahr?«
Melchior nickte nur schnell mit seinem kleinen Kopf und schaute dabei verlegen zu Boden.
»Aber du bleibst weiterhin hier auf dem Berg, Bruder Melchior?«
»Durchaus. Es wird ein Bruder erwartet, der mir zur Seite steht. Oder besser, ein solcher, der mich führt. Denn nichts anderes hat Bruder Agius getan, und ich war ihm stets dankbar dafür.«
Sie schwiegen eine Weile, dann nahm Melchior das Gespräch wieder auf.
»Weshalb, Inga von der alten Schmiede, haben sie dich verfolgt? Ist es aus dem gleichen Grund, der Agius nun zwingt, Tag und Nacht ausgestreckt und bäuchlings auf dem kalten Kirchenboden zu liegen?«
»Was tut er?«
»Er büßt.«
»Nun, offenbar weißt du, wofür er büßt und wofür auch ich büßen müsste. Doch das ist für die Menschen hier kein Grund, mich derartig durch die Wälder zu hetzen.«
»Es gibt mehr Grund als das?« Melchior blickte entsetzt mit großen Augen, die in diesem Zustand noch stärker zu schielen schienen.
Inga atmete tief ein: »Darf ich beichten, Bruder Melchior?«
»Nun, ich bin nur ein einfacher Mönch. Die Beichte darf ich dir nicht abnehmen, aber zuhören kann ich dir, gute Inga, wenn es dir genehm ist.«
»Dann werde ich es dir erzählen.«
Und Inga erzählte dem Mönch alles. Sie erzählte von der Nacht, in der sie von dem weißen Mann entführt wurde. Sie erzählte von dem verletzten Ansgar in der Waldhöhle. Sie erzählte von dem Besuch der Zwillinge und wie sie sie zu erpressen versuchten. Sie erzählte, allerdings nur schemenhaft, von ihrem ungeplant innigen Zusammentreffen mit Agius. Sie erzählte von den Gerüchten, die man über sie in allen Siedlungen streute. Sie erzählte von dem brutalen Abbruch, den sie an Berta vorgenommen hatte. Und sie erzählte von dem ungewünschten Besuch der Meute, den sie sich nur mit dem Tode der tatsächlich stark verletzten Berta erklären konnte.
»Und das ist meine Schuld, Bruder Melchior. Tatsächlich meine Schuld. Der Tod des Rothger, der Uta und des Gernot – mit alldem habe ich nichts zu tun. Auch wenn ich eine Zeitlang befürchtete, böse Geister
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