Die Schluesseltraegerin - Roman
Haar erlaubte, frei zu wachsen, kringelten sich dunkle Locken. Und auch die Augen, soweit Inga das im Schein des Ofenfeuers erkennen konnte, waren dunkel. Er sprach ihre Sprache, dennoch mit einem Akzent, der verriet, dass er aus einem fernen Land kam. Er war ein schöner Mann, seine Nase war ein wenig zu groß, aber das stand ihm gut, er war hochgewachsen und begegnete Ansgar auf Augenhöhe. Auch wenn er nicht ganz so kraftstrotzend dastand wie sein Gegenüber, nahm er trotz seiner Mönchskutte eine stolze Haltung an.
Melchior, der andere Mönch, war geradezu das Gegenteil seines Mitbruders. War der eine streng, so war der andere lustig, war der eine schön, so konnte man das von dem anderen ganz und gar nicht behaupten. Spindeldürr, mit viel zu langen Armen und viel zu großen Händen stand er dort, krumm, schlaksig, mit dünnem, braunem Resthaar, ebenfalls einer enormen Nase und lustigen, niemals auf ein und denselben Punkt gerichteten Augen. Immerzu schweifte sein Blick hin und her, mal sah er hierhin, mal dorthin, und dabei besaß er die Gabe, mit dem einen Auge in eine vollkommen andere Richtung zu schauen als mit dem anderen. Ja, er schielte, und dabei grinste er ununterbrochen, wobei er stets versuchte, seine
schiefen Zähne hinter den Lippen zu verbergen, was ihm jedoch nicht gelang.
Er war ein witziges Kerlchen, und Inga musste selber lachen, wenn sie ihn ansah. Nicht anders erging es den Kindern des Hauses, von denen die kleineren sich bald aufmachten, um die seltsamen Gäste von Nahem in Augenschein zu nehmen.
Auch darüber lachte Melchior wieder schallend, tanzte hin und her, wackelte mit den Fingern vor den kleinen Gesichtern herum und verzog das eigene Gesicht zu unglaublichen Fratzen. Damit war das Eis gebrochen. Ansgar nickte nur stumm, seinen Blick lange auf den lachenden Mönch gerichtet, und sagte dann, an Agius gewandt: »Also gut, ihr seid an diesem Abend unsere Gäste. Soeben wird das Abendessen bereitet, und auch wenn wir arme Leute sind, die das meiste, was sie haben, bereits als Zehnten auf die Wagen spannen mussten, werden wir die Abgabe freiwillig erhöhen, indem wir euch Mönche heute so festlich wie möglich bedienen.«
Wieder lächelte Agius und zog die Brauen hoch, einen erneuten Rüffel des Hausherrn erwartend, doch der war zu sehr mit den eigenen Worten zufrieden, als dass ihm der Sinn nach weiteren Drohungen gestanden hätte.
Schnell waren zwei weitere Plätze am langen Holztisch bereitet, die beiden Gäste durften direkt neben Ansgar Platz nehmen, ihnen gegenüber die übrigen freien Männer des Hauses; das waren – neben Ulrich und Gernot – Heinrich, der vierzehnjährige Sohn einer verstorbenen Tochter Hilgers aus erster Ehe, sowie Friedrich, ältester Sohn des Ansgar, ein Kind noch. Es folgten die freien Frauen, Ada, Berta, Gisela, sowie Almut, die zwölfjährige Schwester Heinrichs, und schließlich Inga, außerdem natürlich die kleineren Kinder Adas. Am Ende des Tisches durften die zwei Knechte Platz nehmen, die beiden Mägde mussten bedienen.
Für diesen Abend war kein Festmahl bereitet worden. Es gab altbackenes Brot, Dickmilch, Ziegenkäse, und eigentlich wäre auch ein Erbsenpüree aufgetischt worden, doch die verschollene Uta hatte es vergessen zuzubereiten. Stattdessen hatte Inga nach Absprache mit Ada zehn Eier aus dem Vorrat nehmen dürfen und diese mit Schnittlauch und Speck über dem Feuer verrührt.
»Bringt auch Schinken und Met«, rief Ansgar den Mägden zu, offensichtlich wollte er sich nicht lumpen lassen.
»Auf dem heiligen Berg wollt ihr also eine Kirche bauen?«, fragte der alte Ulrich, denn so viel hatte er trotz seiner schlechten Ohren schon mitbekommen.
»So ist es. Ihr nennt ihn schon seit Generationen den heiligen Berg, nicht wahr?«, antwortete Agius, ebenfalls lauter als gewöhnlich sprechend.
»Er ist heilig. Dort fließt eine heilende Quelle, dort steht ein heiliger Hain, dort ist unser Opferplatz, das Moor, und dort hatten die Edlen und Frilinge des Gaus einst ihre Thingstätte. Alles vereint sich auf diesem Berg, was uns heilig ist oder war. Und das schon seit den Zeiten unserer Vorväter. Mit eurem Gott hat dieser Berg rein gar nichts zu tun.«
»Aber unser Gott ist doch auch der eure, Ulrich«, antwortete Agius.
»Seit wann, Mönch? Ich für meinen Teil bin nicht aus freien Stücken zur Taufe gegangen. Gezwungen hat man uns, auf einem Karren mussten sie mich Krüppel an den Weserfluss fahren, wo wir allesamt, ungeachtet des
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