Die Schluesseltraegerin - Roman
Standes und ungeachtet ihres freien Willens, eure Taufe empfangen mussten. Mein Gott ist er nicht. Er hat mir noch nichts Gutes getan, ich habe ihn noch nie gesehen, nichts von ihm gehört. Wo soll der sein? Was treibt er den ganzen Tag?«
»Gott ist nicht fassbar, Ulrich. Er ist kein irdisch Ding, kein
vergängliches Wesen. Du musst wissen, alles Wahre ist unsichtbar, ist immer und überall. Gott ist in dir, Ulrich«, antwortete Agius, unerschüttert von den ungläubigen Worten des Greises.
»In mir? Was hat er da zu suchen? Nein, das ist ein Hokuspokus, den ihr den jungen Leuten erzählen könnt. Ich bin zu alt, um daran zu glauben. In mir …«, und der Alte lachte. »Wie soll der denn da reingekommen sein? Und warum ausgerechnet in mir, und nicht in Ansgar oder Gernot?«
»Er ist in allen Menschen.«
»Dann ist er ja ein Zauberer, ein Hexenmeister.«
Jetzt wurde Agius ernst.
»Gott ist kein Hexenmeister, und ich würde euch raten, eure Gedanken nicht weiter an Hexenspuk und Weissagekunst zu vergeuden. Es gibt weder Hexen, noch gibt es solche Menschen, welche die Zukunft voraussehen können. Und jeder, der daran glaubt oder ein solches Treiben anderen Menschen nachsagt, ist auf dem falschen, gottlosen Weg.«
Agius blieb ruhig bei diesen Worten. Anders als der Priester mit Namen Johannes, der ab und zu aus dem fernen Huxori kam, um in der Talsiedlung zu den Menschen zu sprechen, die hier, weitab der nächsten Kirche, noch nicht viel vom neuen Gott wussten. Dieser Priester Johannes wurde regelrecht wild, laut und kreischend, wenn er von Gott und vor allem vom Teufel sprach. Es war fast unheimlich, ihm zuzuhören. Aber diesem Agius hörte Inga gerne zu. Wenn sie nur alles verstanden hätte, denn leider tuschelten die Zwillinge neben ihr immerzu miteinander.
»Wenn man ihm nicht die Haare geschoren hätte wie einem Sklaven, dann wäre er ein netter Mann«, flüsterte Gisela ihrer Schwester ins Ohr.
Diese kicherte nur und antwortete: »Das kann ihm gleich sein, die dürfen ohnehin keine Frauen haben.«
»Bist du dir da sicher?«, kicherte Gisela zurück.
»Schade ist das schon, eine Verschwendung«, gackerte Berta.
Und so ging es immerfort, sodass Inga dem Gespräch der Männer leider nicht mehr folgen konnte. Als die beiden Schwestern mit ihren albernen Tuscheleien endlich aufgehört hatten, war Ulrich dazu übergegangen, eine seiner alten Göttergeschichten zu erzählen:
»… und als Thor die Schlange schließlich ins Boot ziehen will, muss er seine ganze Kraft aufwenden, ja, so viel Kraft, dass er mit dem Fuß durch den Boden des Bootes bricht und schließlich auf dem Grund des Meeres steht. Doch das beirrt ihn nicht, er reißt und zerrt weiter an der Schnur, bis er das Untier schließlich nach oben gezogen hat. Doch was macht sein Gefährte, der Riese Hymir? Er bekommt es mit der Angst zu tun, zerschneidet die Leine, und die Midgardschlange entkommt. Und so umschlingt sie weiterhin die ganze Welt und wartet auf den Jüngsten Tag, an dem sie zusammen mit all den bösen Unholden und Ungeheuern zurückkehrt, um Götter und Menschen endgültig zu besiegen.«
»Wie schwach sind eure Götter, guter Ulrich«, antwortete mit einem Mal Bruder Melchior amüsiert. »Glaube mir, Jesus Christus hat eurem Thor schon längst die Arbeit abgenommen und die Schlange, die nichts weiter ist als der Teufel, besiegt. Sie ist besiegt, und ihr braucht euch nicht mehr vor dem Jüngsten Tag zu fürchten, solange ihr festen Glaubens seid und diesen Glauben auch lebt.«
»Seid ihr nur gekommen, um über den Christengott zu predigen, oder wollt ihr mich nicht endlich fragen, ob ich eurem Kloster mein Land vermache?« Ansgar unterbrach mit diesen Worten den Ausflug in die Mythologie der germanischen Vorväter.
Agius schaute ihn aufmerksam an, er schien nicht überrascht:
»Viele Edle und Frilinge haben in den letzten zwei Jahren Teile ihres Landes der Kirche vermacht. Dies ist eine gute Tat, und sie wird ihnen gelohnt, sowohl im Leben wie nach dem Tode. Doch sollen diese Schenkungen nicht zu einem Zwang für all die anderen werden. Sie geschehen aus freien Stücken, und wir erwarten nichts von dir, Ansgar. Nichts, außer dass du bereit bist, den neuen Glauben anzunehmen. Nicht nur, indem du deine Kinder taufen lässt, was du ja bereits getan hast. Nicht nur, indem du für deinen toten Bruder ein christliches Gebet sprichst, ihn aber dennoch für seine Reise über den Styx vorbereitest. Wir wissen, dass dieser Glaube für euch
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