Die Schluesseltraegerin - Roman
Spur. Schau. Sie stammen von vier Füßen und sind viel kleiner als meine.« Wieder setzte sie ihren Fuß auf die anderen Spuren, die tatsächlich um einiges kleiner waren.
»Hier unmittelbar am Stall kann man nichts mehr finden, es ist alles zu sehr durchwühlt. Aber komm einmal mit.«
Sie ging los und schaute sich nach wenigen Schritten um, um zu sehen, wo Ansgar bliebe. Dieser stand noch immer vor der Stalltür und sah Inga an. Dabei lächelte er.
»Es waren meine Schwestern, das weiß ich längst.« Und dann ging er zu ihr. »Die Wolle der toten Schafe gehört dir. Das bedeutet, dass du wieder Arbeit hast und nicht schon am helllichten Tage untätig und faulenzend im Grubenhaus sitzen musst, wie meine Schwestern mir gestern berichteten.«
Inga nickte erleichtert.
»Sicherlich wirst du bis tief in die Nacht dort arbeiten müssen, oder etwa nicht?«, fragte er leise.
Inga begriff.
»Ja, ich denke schon. Bis tief in die Nacht werde ich dort sein«, antwortete sie und ging mit bebenden Knien zurück ins Haus.
V
D er Winter war vorüber, der letzte Schnee getaut, und die ersten Blumen blühten. Das Leben kehrte zurück, endlich konnten die Tiere den Stall verlassen und die Menschen der bedrückenden Enge und Dunkelheit des Hauses entfliehen.
Inga zog es in den Wald. Zusammen mit den verbliebenen Schafen und Ziegen stapfte sie die Quellmulde entlang, die sich als baumlose Zunge in den Wald erstreckte.
Im Herbst und Winter finster und unheimlich, war der helle, noch immer blattlose Frühlingswald ein reines Paradies. Die Ziegen und Schafe labten sich an den zarten Knospen des Unterholzes, und Inga genoss die frische Luft. Eigentlich wäre es Aufgabe der beiden Halbwüchsigen, Heinrich und Friedrich, gewesen, als Hirtenkinder mit dem Vieh in den Wald zu ziehen, aber Inga hatte Ansgar davon überzeugt, dass sie die Zeit im Walde nutzen wolle, um nützliche Frühlingskräuter zu sammeln und die Orte auszukundschaften, wo die Bienen ihre Waben bauen würden. In diesen Dingen kannte sich Inga dank des Erbes ihrer kräuterkundigen Großmutter besser aus als sonst jemand im Hause, und nicht nur deshalb hatte Ansgar ihrem Wunsch zugestimmt.
Sie nahm sich in letzter Zeit viel heraus, das war nicht nur den Zwillingen aufgefallen. Und auch wenn er wenig mit Inga sprach, so hatten fast alle Bewohner des Hilgerschen Hauses den Eindruck, dass es Ansgar sehr schwer fiel, streng mit der
Witwe seines Bruders zu sein. Jeder, mit Ausnahme der kleinen Kinder, konnte sich seinen Reim darauf machen. Auch Ada.
Sie wusste, was ihr Mann trieb, sie wusste, wann dies geschah und an welchem Ort. Aber Ada scherte das nicht. Ob er sich Inga oder, wie früher, eine der Mägde zur Geliebten nahm, blieb für sie dasselbe. Froh war sie sogar, nach sieben Geburten, nun endlich einmal Ruhe vor ihm zu haben. Noch einmal wollte sie gewiss nicht schwanger werden, drei gesunde Buben hatte sie und ein gesundes Mädchen, das sollte reichen. Und solange Inga sich benahm, einigermaßen bescheiden blieb und nicht hochfahrend wurde, ja, solange es ihr unangenehm war, Ada in die Augen zu blicken, würde Ada diesen Zustand erdulden. Inga war keine Gefahr.
Schnell waren die ersten Sprosse im nahen Unterholz abgenagt, und Inga trieb die Tiere weiter, den Berg hinunter, in Richtung des Tales, durch das einer der beiden hiesigen Bäche hin zur Talsiedlung floss. Hier war der Hilgersche Wald längst durchschritten, und im Grunde war es nicht gestattet, Vieh – gar im Frühling – durch fremde Wälder zu treiben und dort die jungen Triebe fressen zu lassen. Aber darüber dachte Inga nicht nach. Sie wollte hinauf auf den nächsten Berg, den Ausläufer des heiligen Berges – dorthin, wo ihre Familie wohnte. Nur einmal schauen wollte sie, sich hinter einem Baum verbergen und einen Blick auf ihr Geburtshaus werfen. Dieser Wunsch trieb sie an diesem herrlichen Frühlingstag, und die Schafe sowie die Ziegen mussten sie begleiten, denn sie konnte sie ja nicht alleine lassen.
Also ging es durch den Bach in Richtung des Bergtales, vorbei an der verfallenen Schmiede, an welcher der lange nicht genutzte und deshalb wild bewachsene Weg hinauf in den Wald und auf den Berg führte, wo irgendwo, mitten zwischen Buchen, Eichen und Tanngehölz, ihr elterlicher Hof lag.
An der Schmiede lief es Inga kalt den Rücken herunter, und sie beeilte sich, so schnell wie möglich an dem verlassenen Haus vorbeizukommen. Das Dach war teilweise eingestürzt, der Hof von Unkraut
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