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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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überwuchert, und die Türen hingen nur noch schief in den Angeln, den Blick freigebend auf eine gähnende Finsternis im Inneren des Hauses.
    Inga fürchtete sich, sie fürchtete sich sogar sehr, denn gewiss waren die Ahnen der Schmiedfamilie aufgebracht, böse auf sie, Inga, Tochter des Meinrad, Enkelin des Bero. Bestimmt lauerten sie dort, im finsteren Inneren, und versuchten sie hineinzulocken und zu lynchen. Grund genug hatten sie dazu. Fürchterliches war der Familie des Hatho in den letzten Jahren widerfahren, so Fürchterliches, dass niemand, gar niemand mehr aus diesem Hause am Leben war, niemand außer Ada.
    Und nun zog ausgerechnet sie, Inga, die Gespielin des Gatten der Ada, an diesem unglückseligen Gehöft vorbei. Schnell begann sie zu rennen, denn aus der Schmiede meinte sie plötzlich laut und deutlich vernommen zu haben, wie ein Hammer auf den rostigen Amboss fiel – zwei Mal.
    Die Tiere eilten hinter Inga her, und erst am Waldesrand, als der Hatho-Hof außer Sichtweite war, hielt sie an, ging in die Hocke und verschnaufte kurz. Danach ging es weiter hinauf in den Bero-Wald, der genau an dieser Stelle begann.
    Nach wenigen hundert Schritten erreichte Inga die Lichtung – ihre Lichtung, den Ort, an dem sie so gerne mit ihrer Schwester Hedda gespielt hatte, den Ort, von dem sie als Kinder glaubten, dass dort Alben, gute Waldgeister, lebten. Hedda hatte sie gesehen: helle, hohe Gestalten, die, ohne einen Zweig zu zertreten, ohne eine Spur zu hinterlassen, lautlos und leicht durch den Wald schritten.
    Inga ließ die Tiere auf der Lichtung weiden, legte sich, so wie sie es als Kind getan hatte, auf den Rücken ins weiche Moos
und betrachtete die Wolken. Sie fühlte sich wohl, der Frühling tat ihr gut. Er befreite den Kopf von unschönen Gedanken, von Gewissensbissen und Schuldgefühlen. Wie schön war es doch, an nichts zu denken – nicht an ihren verstorbenen Gemahl, nicht an ihre heimliche Liebschaft zu dessen Bruder, nicht an die betrogene Ada und erst recht nicht an Uta, über deren mutmaßliche Ermordung Inga zu ihrem eigenen Schutze schweigen musste. Ganz so, als sei sie die Mörderin gewesen, hatte sie die verdächtigen Haarbüschel verschwinden lassen, sie zusammen mit den unbrauchbaren Schlachtabfällen zweier Gänse verbrannt. Der widerliche Gestank dieses Feuers saß ihr noch immer in der Nase. Doch heute vertrieb sie ihn endlich. Sie atmete den frischen Duft des Frühlings ein und lauschte dem munteren Zwitschern der Vögel. Dabei summte sie leise. Und bald verschwammen die Wolken vor ihren Augen, sie vernahm ihr Summen immer dumpfer, immer weiter weg, bis es schließlich verstummte und Inga in einen angenehmen Schlaf sank.
     
    »Nanu, nanu?«
    Inga schreckte auf.
    Wo war sie?
    Wessen Stimme war das?
    Es verstrichen einige Momente, ehe sie sich gefangen und die Situation begriffen hatte. Sie lag ausgestreckt auf der Waldlichtung, die Sonne schien ihr ins Gesicht, und über sie gebeugt stand Melchior, der Mönch.
    »Das ist merkwürdig, dass du so einfach hier schläfst«, sagte er, wieder einmal amüsiert.
    »Ich wollte das eigentlich nicht. Kräuter soll ich sammeln und nicht faul in der Sonne liegen.«
    Inga war noch immer verwirrt.

    »Sind alle Tiere da?«
    Entsetzt schaute sie sich um und zählte nach. Alle waren noch da: fünf Schafe, drei Ziegen.
    Melchior krümmte sich fast vor Lachen, und Inga stimmte mit ein. Sie wusste nicht, wieso, aber dieser Mensch war einfach mitreißend komisch. So einfach, so schlicht, so gutmütig, und alles von der munteren Seite betrachtend.
    »Wenn ich mich recht entsinne, liegt euer Hof weiter im Norden. Ganz auf dem anderen Berg, an dessen nördlichem Ende gar.«
    »Ja, so ist es. Und ich dürfte hier nicht sein. Diese Lichtung gehört zum Bero-Wald, der Familie des Meinrad. Es wäre nett, wenn du, Herr Mönch, niemandem davon erzählst, dass du mich hier gesehen hast.«
    »Wen sollte das interessieren?«, lachte Melchior.
    »Was treibst du hier, wenn ich fragen darf?«
    »Ich beobachte die sogenannten Insekten. Kleine Krabbeltiere. Endlich sind sie wieder da. Sie sind einfach entzückend in ihrem Verhalten. Einfach entzückend.« Er strahlte übers ganze Gesicht.
    Inga runzelte die Stirn, dann fragte sie: »Was ist mit eurem Gotteshaus? Wart ihr auch im Winter dort oben?«
    »Die meiste Zeit des Winters weilten wir im Kloster. Seit dem Weihnachtsfeste, das wir dort verbrachten. Doch bereits seit vierzehn Tagen sind wir nun zurück. Die Kirche ist

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