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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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fast fertiggestellt. Man möchte kaum glauben, welche Kräfte und handfesten Fähigkeiten in Bruder Agius stecken. Gewiss hatten wir auch Hilfe, aber vieles hat er allein gemacht. Dabei habe ich ihn immer für einen Bücherwurm gehalten, einen gelehrten Bücherwurm, versteht sich. Weißt du, er hat sogar am Liber glossarum mitgearbeitet, der größten Enzyklopädie der Welt! Größer noch als die Etymologiae Isidors von Sevilla.«

    Inga nickte nur. Sie verstand rein gar nichts von dem, was Melchior da sprach. »Dann ist er wohl ein kluger Mann. Von woher stammt ihr beiden?«
    »Vom Kloster Corbeia Nova.«
    »Das ist mir bekannt. Wo seid ihr geboren? Das möchte ich wissen.«
    »Ah! Ja, wo wir geboren sind. Ich für meinen Teil bin aus der schönen Stadt Colonia Agrippinensium, so nannten sie die Römer. Die Familie meines Vaters, ein altes Patriziergeschlecht, ist sogar römischer Herkunft. Nur sind seither bereits Generationen vergangen. Ich sehe nur noch wenig römisch aus, nicht wahr?« Und dann lachte er wieder. »Agius ist Westfranke, ein Edler aus Avennio, ebenfalls eine alte Römerstadt auf ehemals keltischem Gebiet.«
    Inga hatte niemals zuvor von Orten namens Colonia und Avennio gehört. Sie war sich aber sicher, dass beides sehr, sehr weit entfernt von hier lag.
    »Und weshalb seid ihr nicht dort geblieben?«
    Melchior lachte herzlich. »Die Wege des Herrn sind unergründlich. Wir beide waren Mönche im Kloster Corbie in Westfranken. Als unser Abt Adalhard und sein Bruder Wala schließlich ein neues Kloster im Sachsenlande gründeten, wurden Agius, ich und noch andere Mitbrüder hierher gesandt. Kalt ist es hier und nass.«
    Dabei schlotterte er, kreuzte die Arme vor der Brust und rieb sich mit den Händen die Schultern – trotz des warmen Frühlingstages. »Zunächst versuchten wir es in Hethis, das ist zwei Tagesmärsche entfernt, jenseits des Weserflusses. Doch das Land erwies sich als wenig günstig, die Lage als schlecht. Deshalb sorgte kein Geringerer als der Kaiser Ludwig dafür, dass wir hier im schönen Wesertal einen zweiten Gründungsversuch unternehmen konnten. Und dieser ist geglückt.«

    »Und nun baut ihr außerdem Kirchen in der Umgebung.«
    »So ist es. Das heißt, diese hier ist die erste. Hier leben viele Menschen. Drei größere Siedlungen gibt es und zahlreiche einzelne Gehöfte. All diese Menschen müssen doch versorgt werden, in religiösen Dingen, meine ich. Wie oft warst du schon in der Kirche, Inga? Inga – so ist doch dein Name, oder?«
    »Ja, so heiße ich. Nicht oft war ich in der Kirche, obwohl die in Huxori sehr schön ist. Ganz aus Stein. Nur zu Kindstaufen gehen wir dorthin. Sechs Mal war das in den letzten Jahren. Immer dann, wenn ein Neugeborenes in unserem Hause zur Welt gekommen war. Doch zweien von den Kleinen hat auch die Taufe nichts genützt.«
    »Deine Kinder?«, fragte er traurig.
    »Nein, ich habe keine Kinder. Schwanger war ich, doch lebendig ist mir keines geblieben, nicht einmal einen Tag lang.«
    Melchior blickte betreten zu Boden, dann jedoch sah er wieder neugierig auf und berichtete: »Ich hörte, es gibt Heiden, die den verstorbenen Kindelein Holzpflöcke durchs Herz stoßen, damit sie nicht zurückkehren. Sie fürchten sich, dass sie die Lebenden aufsuchen, um unter diesen zu spuken, weil es ihnen nicht vergönnt gewesen ist, auf Erden zu bleiben.«
    Inga verzog ihr Gesicht: »Das sind böse Geschichten. Davon weiß ich nichts. Ihr Kirchenleute haltet uns für schlimme Unholde.«
    »Ich kann es mir selber nicht vorstellen«, sagte er wieder fröhlich. »Aber an Geister glaubt ihr schon, oder etwa nicht?«
    »Es gibt Gutes und Böses in der Welt, nenn es Gott und Teufel oder guten Zauber und schlechten Zauber. Ich für meinen Teil habe schon viele Geister gesehen, und hier im Wald, da musst du bloß die Augen aufsperren, wimmelt es nur so von ihnen. Schau dort drüben, am Rande der Lichtung, siehst du den hohen Stein?«

    »Ja, an ihm bin ich vorübergegangen, als ich hierher kam. Wunderte mich, dass er einfach so dort steht. Allein, ohne Mitsteine.«
    »Das ist Thrasir, der Zwerg. Bis in die Zeiten meines Urgroßvaters wütete er in diesem Wald, schlug des Nachts alles nieder, was Menschenhand erschaffen hatte. Aber dann – er war so eifrig und zornig bei der Arbeit – wurde es Tag, und mit dem ersten Sonnenstrahl, der ihn traf, versteinerte Thrasir. Und da steht er noch immer. Geh hin und schau ihn dir genau an, du erkennst sogar noch die Axt, die

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