Die Schluesseltraegerin - Roman
er in Händen hält.«
Erschrocken blickte Melchior zu dem Stein und fing entsetzlich an zu schreien, als sich hinter diesem plötzlich etwas bewegte. Auch Inga bekam große Augen, doch dann erkannte sie den anderen Mönch, Bruder Agius. Schnellen Schrittes kam er auf die beiden zu.
»Melchior, ein Bote des Klosters war soeben bei mir. Der Vater Prior hochselbst wird uns gleich morgen besuchen kommen und die Kirche in Augenschein nehmen. Es gilt noch einiges vorzubereiten, komm und trödle nicht.«
Er schaute Inga nur kurz an, und warum auch immer: Sie errötete dabei und senkte den Blick.
»Was ist das hier für eine seltsame Zusammenkunft?«, wollte Agius wissen.
»Inga erzählte mir vom Zwerg Thrasir. Du bist soeben an ihm vorübergeschritten.«
»Der Zwerg Thrasir also«, seufzte Agius und hob die Augenbrauen. »Es gibt noch viel zu tun, sehr viel zu tun …«, sagte er dann und ging davon, »der Zwerg Thrasir« vor sich hinmurmelnd und den Kopf schüttelnd.
Die Sonne stand bereits im Westen, Inga hatte den ganzen Tag verschlafen und verplaudert. Das schlechte Gewissen plagte sie, von einem heimlichen Besuch des Hofes ihres Vaters
würde sie nun absehen müssen. Es galt, sich nun ebenfalls zu beeilen. Schnell verabschiedete sie sich von Melchior, der sich gleichsam sputete und seinem Mitbruder folgte.
»Wo warst du, Inga? Ich habe schon lange nach dir gerufen.«
Der alte Ulrich war ungeduldig, er saß draußen neben dem Brunnen und versuchte verzweifelt, aus eigener Kraft einen Eimer Wasser nach oben zu befördern.
»Warum nimmst du nicht das Wasser aus der Quelle? Das ist frischer«, rief Inga, schnell herbeieilend.
»Ich will aber dieses.« Der Alte war stur.
Niemand benutzte den Brunnen, außer im Hochsommer, denn da versiegte die Quelle oft. Der Brunnen war ein Denkmal, das sich der alte Hilger selbst gesetzt hatte, ein Sinnbild für seinen Starrsinn und seine Willenskraft. Niemand in der Umgebung, nicht einmal der Graf, verfügte über einen Brunnen, alle schöpften sie ihr Wasser aus Quellen, Flüssen und Bächen. Und auch auf dem Hilgerschen Hof gab es eine wunderbare, reiche Quelle, die nur leider in heißen Sommern austrocknete.
Doch anstatt die Wassermassen des Frühjahrs in einem Teich für den Sommer aufzustauen, hatte Hilger einen Brunnen gewollt, und diesen unmittelbar neben dem Haus. Eigenhändig hatte er mit dem Ausheben begonnen, und obwohl die Quelle ganz in der Nähe war, war er auf keine Wasserader gestoßen, dennoch grub und grub er weiter. Nach zwei Tagen konnte man ihn nicht einmal mehr sehen in dem tiefen Loch, aber dennoch ließ er nicht ab. Irgendwann, am Ende des dritten Tages, nach ununterbrochener Arbeit, hatte er die Ader gefunden. Schnell hatten ihn seine Söhne aus dem Loch ziehen müssen, das sich bald mit Wasser füllte. Der Brunnen war tiefer, als das Haus lang war – und das Haus war unglaublich lang -, und wollte
man aus ihm Wasser schöpfen, so dauerte es ewig, bis der Eimer endlich den Wasserspiegel erreicht hatte, und noch länger, bis man ihn wieder nach oben gezogen hatte. In dieser Zeit war man schon fünf Mal zur Quelle und wieder zurück gelaufen. Im Sommer jedoch – nicht in jedem, aber in vielen – leistete er gute Dienste. Und darum, und natürlich im Gedenken an die Mühen des alten Hilger, hatte man ihn noch nicht wieder zugeschüttet.
»Hier hast du dein Wasser. Gib den Becher her, ich fülle ihn dir.«
Inga tauchte den Holzbecher des Alten in den Eimer, den sie aus dem finsteren Schlund hinaufbefördert hatte. Gierig nahm Ulrich das Trinkgefäß und führte es an seine faltigen Lippen.
»Pah«, schrie er im nächsten Moment und spie den Schluck, den er genommen hatte, wieder aus. Danach spuckte er noch vier Mal auf den Boden.
»Nach Aas schmeckt das. Widerlich!«
Gernot und einer der Knechte kamen hinzu.
»Da ist wieder ein Vieh hineingefallen«, schimpfte der Alte die beiden Männer an, als ob sie Schuld daran trügen.
Nachdem sie lange in die tiefe Dunkelheit gestarrt hatten, kletterte der Knecht widerwillig hinunter in den Schlund, Gernot und ein zweiter Knecht hielten das Seil. Mit einer Mistgabel bewaffnet stocherte der Mann, von oben kaum mehr erkennbar, im Nass herum.
»Da ist tatsächlich etwas. Es liegt auf dem Grund. Das Wasser ist nicht tief, ich könnte sogar mit meinem Arm heranreichen.«
»Dann tu das«, rief Ansgar hinunter, der inzwischen ebenfalls hinzugekommen war.
Mit missmutigem Murren gehorchte der Knecht, man
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