Die Schluesseltraegerin - Roman
die Entführung Ingas vor wenigen Jahren hatte keine weiteren Folgen nach sich gezogen. Meinrad, ihr Vater, war ein Kind gewesen, als er seinen Vater hatte sterben sehen, und als er schließlich erwachsen war, war sein brennender Hass vielleicht verraucht. Vielleicht war er auch zu schwach oder einfach zu vernünftig, um es gegen die mächtigen Freien vom Nachbarhof hinter dem nördlichen Hügel aufzunehmen.
Der junge Bero war nun zu einem Mann herangewachsen, und, obwohl nicht besonders groß und stark von Wuchs, so hatte Ingas kleiner Bruder schon immer einen unbändigen Willen, einen wilden Stolz besessen, der ihn mitunter zu kopflosen Taten trieb.
Inga konnte sich vorstellen, dass ihr Bruder die Hilgerschen glühend hasste und seine Attacke auf Ansgar nicht nur aus einem Bierrausch heraus zu erklären war. Er war nun gewiss vorbereitet auf den Besuch des Hilger-Sohnes, und eine verzweifelte, verstoßene Schwester, die zum Hof gelaufen käme, um ihn zu warnen, würde er nur wie eine streunende Katze verjagen. Aber dennoch musste sie es tun, musste mit ihm reden. Und
während sie so dachte, hatte sie sich bereits unwillkürlich auf den Weg zum Hof ihrer Väter gemacht.
Sie musste nicht lange gehen, denn unweit der verlassenen Schmiede kam ihr Bero, auf einem Pferd reitend, entgegen. Er zügelte das Tier, als er die Schwester erkannte, und stand so fünfzig oder sechzig Schritte von Inga entfernt auf dem unwegsamen, wenig genutzten Pfad, ihr stumm entgegenblickend.
»Grüß dich, Bruder.« Ihre Stimme bebte, als sie bei ihm angekommen war und in das vertraute Gesicht blickte.
»Du kommst, um mich vor deinem Buhlen zu warnen, stimmt es?«
»Und du bist hoffentlich auf dem Weg zum Hof unseres Oheims, um dich dort zu verbergen.« Aus Inga war plötzlich wieder die große Schwester geworden, ganz so, als hätten sie sich erst vor einer Stunde zuletzt gesehen.
»Das werde ich dir nicht sagen, wohin ich gehe. Läufst du doch sicherlich sogleich zu ihm und berichtest ihm alles.« Beros Worte waren stolz, aber seine Stimme klang schüchtern.
»Er ist sehr wütend auf dich und sagt, er werde dich töten.«
»Das glaube ich ihm sogar.«
»Vater schickt dich fort, nicht wahr?«
»Wenn es nach mir ginge, würde ich bleiben und den riesigen Trottel erwarten. Ihn meinerseits totschlagen, so wie er es verdient hat und so, wie es seinem verkommenen Bruder bereits beschieden war.«
»Erwecke keinen falschen Verdacht, Bero«, sagte Inga streng. »Noch ist er zu schwach, um aufzustehen, aber morgen wird es anders aussehen. Beeil dich, hier fortzukommen, und kehre sobald nicht zurück. Du kommst nicht gegen ihn an, glaub es mir. Zu viele stehen hinter ihm.«
»Aber es werden weniger. Und von Gernot, dem Schwächling, habe ich nichts zu befürchten.«
»Er ist der einzig Vernünftige, scheint mir.«
»Nur schade, dass du dich nicht auch noch in sein Lager stehlen kannst, liebe Schwester, denn von Frauen hält er wenig.«
Inga warf ihm einen bitterbösen Blick zu, und Bero senkte unvermittelt den Kopf, er schämte sich seiner Worte.
»Reite fort, Bero, wenn dir dein Leben lieb ist. Mir ist dein Leben lieb, und ich werde alles tun, um ihn zu besänftigen. Doch es sieht nicht gut aus. In ihm fließt das Blut seiner Väter. Es war sehr dumm von dir, was du da getan hast.« Und Inga versetzte dem Pferd einen Klaps auf den Hintern, sodass es lostrabte.
»Ich habe es für dich getan, Schwester«, rief er beim Davonreiten, und Inga lächelte ihm traurig nach. Sie war froh, als sie sah, dass er seinen Weg durch das Tal nahm und sich offenbar tatsächlich zu ihrem Oheim aufmachte. Doch wenn Ansgars Wut groß genug war – wie sie befürchtete -, würde er ihn auch dort suchen.
Sie wechselte noch einmal die Umschläge, ohne jedoch mit ihm zu reden, und auch Ansgar sprach kein Wort. Dann ging sie hinaus, um Wasser zu holen. Es war in diesem Frühjahr so heiß, dass die sonst so frisch sprudelnden Quellen in der Mulde nahe des Waldes nur noch spärlich flossen, und den Brunnen gab es nicht mehr. Ansgar hatte ihn zuschütten lassen, nachdem die Leiche der schwangeren Uta herausgefischt worden war. Der alte Ulrich hatte protestiert und geschimpft, dass er mit dieser Tat den Unmut seines verstorbenen Vaters heraufbeschwöre. Doch Ansgar hatte nur erwidert, dass er lieber den Geist seines Vaters ein wenig gegen sich aufbringe, als über Jahrhunderte hinweg den Spuk der unglücklichen Uta zu ertragen. Und außerdem sei das
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