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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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den Bauch. »Du brauchst jetzt Ruhe«, flüsterte sie weiter. »Wir sind nicht allein. Außerdem bist du krank und noch immer trunken. Ganz zu schweigen von deinem Gesicht. Dein Anblick ist nicht gerade ein Augenschmaus.«
    »Du hast mein Gesicht doch unter einem Tuch versteckt. Brauchst dich also nicht mehr zu fürchten. Und der Rest von mir ist heil geblieben«, sprach er und suchte mit der Hand wieder nach Ingas Beinen.
    Doch diese war bereits aufgestanden und sagte nur: »Du solltest dich schonen, Ansgar, Sohn des Hilger.«

    »Und du wirst bald um deinen Bruder trauern dürfen, Inga, Tochter des Meinrad«, sagte er plötzlich mit veränderter Stimme.
    Er hatte das Tuch so gelüftet, dass er sie mit seinem heilen Auge scharf ansehen konnte. Dann legte er es sich aufs Gesicht zurück, streckte sich und erweckte den Anschein, wieder einschlafen zu wollen.
    Inga ging. Sie befürchtete, dass es ihm ernst war.
     
    Ihr eigenes schauriges Abenteuer vergessend, sorgte Inga sich nun um ihren jüngeren Bruder. Ansgar war alles zuzutrauen, er war der Sohn seines Vaters. Und nach dem Überfall des jungen Bero auf das neue Oberhaupt des Hilgerhofes würden nun die Zeiten der harmlosen Heimzahlungen vorüber sein.
    Nun würde es nicht mehr genügen, über die frisch bestellten Äcker des anderen zu galoppieren oder entlaufenes Federvieh der verfeindeten Sippe den Armen zu schenken, anstatt es zurückzubringen. Es würde nicht mehr genügen, schändliche Gerüchte zu verbreiten oder aus den eigenen Feldern aufgesammelte Steine des Nachts auf den Äckern des Nachbarn zu verteilen.
    All diese heimtückischen Taten, derer sich die beiden Sippen seit Jahrzehnten bezichtigten und von denen einige böswilliger Tatsache entsprachen, das meiste jedoch heimlichen Dritten anzulasten war – all diese Taten würden nun nicht mehr ausreichen.
    Ansgar musste, um seine Stellung als neues Oberhaupt einer solch mächtigen Familie zu verteidigen, handeln. Und er konnte nur rechtmäßig im Sinne der Stammestraditionen handeln, wenn er sich gebührend revanchierte. Das hieß, dass Blut fließen würde. Sich von einem Mann, der gerade einmal einundzwanzig Sommer zählte, verprügeln zu lassen, war ohne
Zweifel entehrend – das konnte er nicht lange ungestraft lassen. Er würde morgen oder übermorgen von seinem Lager aufstehen, durch den Wald ins Tal hinunterreiten, den Bach überqueren, an der alten Schmiede vorbei hoch auf den heiligen Berg, nicht den linken Weg zum Gotteshaus nehmend, sondern den rechten einschlagend, und schon bald würde er dann auf dem Meinradschen Hof ankommen. Dort würde er auf Bero warten, würde sich einen Stock nehmen und ihn erschlagen, so wie es sein Vater mit Ingas und Beros Großvater getan hatte.
    Sie musste gehen und ihre Familie warnen, sofort.
    Aber was sollte das nützen?
    Sicherlich war sich Bero dieser drohenden Gefahr längst bewusst. Er kannte Ansgar, er kannte dessen Familie, und er musste sich sicher sein, dass die Blutrache in der Sippe der Hilgerschen sehr ernst genommen wurde.
    Wen kümmerte schon das Verbot des Kaisers und seiner Kirche?
     
    Ja, einer ihrer eigenen Prediger hatte vor Jahren im Tale gestanden und zu den Menschen gesprochen, ein kleiner, dicker Mann ohne Haare. Geschimpft hatte er über die gottlosen Streiche, mit denen die Heiden sich selbst auszulöschen gedächten.
    »Ihr«, so hatte er gerufen, »solltet die Worte des Alten Testaments nicht missverstehen. So steht dort geschrieben: Auge um Auge. Zahn um Zahn. Aber wisset …«
    Doch genau in diesem Moment war die Menge von einem Platzregen überrascht worden und hatte sich beeilt, in die trockenen Häuser zu gelangen. Die dröhnenden Worte des Geistlichen waren wegen des strömenden Himmelsgusses nicht mehr zu ihnen durchgedrungen, und so hatte niemand den Hinweis auf Jesus Christus vernommen, der geraten hatte, auch die andere Wange hinzuhalten.

    In den Köpfen der Menschen blieb allein die Redewendung von Augen und Zähnen haften, und es gefiel ihnen, dass auch der neue Glaube offenbar diese einfache Form der Rechtsprechung kannte.
     
    Gleiches mit Gleichem zu vergelten, war nicht nur Usus, sondern Pflicht, und die Meinradschen hatten es in all den Jahren nicht vollbracht, ihren großen Verlust gleichwertig zu rächen. Es stand noch immer ein entscheidender Schlag aus, einer, der jedoch nicht mit einer harmlosen Prügelei wie der des gestrigen Abends abgegolten sein könnte.
    Der alte Bero war noch nicht gerächt, und auch

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